Die Gabe zur absurden Komik bescherte Dana von Suffrin für ihren ersten Roman »Otto« großen Erfolg. Auch in ihrem neuen Buch »Nochmal von vorne« gelingt es ihr, mit dem ihr eigenen feinen Humor der Grausamkeit des Lebens und der Geschichte entgegenzutreten.
Dana von Suffrin. Nochmal von vorne
Zurück nach vorn
Was hält eine Familie zusammen, in der alle entweder schweigen oder gehässig streiten? Wahrscheinlich ist es der Fatalismus, den die Jeruschers teilen. Veronika wünscht sich weg von der Eintönigkeit am Stadtrand und beginnt irgendwann, über Yoga und Trips nach Thailand nach Freiheit zu suchen. Die Tochter Nadja rebelliert fast ihr gesamtes Leben. Ehemann Mordechai gelingt es seit seinen Erfahrungen im Jom-Kippur-Krieg kaum noch, über seine Emotionen zu sprechen.
In dieser Familie steckten sie alle fest – und teilten eine diffuse Sehnsucht nach einem anderen Leben. Rosa Jeruscher arbeitet gerade ziellos und befristet im Wissenschaftsbetrieb und erinnert sich immer wieder an eine lang verflossene Liebe. Nach dem Tod ihres Vaters beginnt die Mittdreißigerin, die Geschichte ihrer Familie aufzuschreiben. Viele Themen treten wieder an die Oberfläche: ihre irrwitzige Kindheit in den 90ern, das Scheitern der Ehe ihrer Eltern, die inspirierende und zugleich beengende Verwandtschaft in Israel sowie das Verhältnis zu ihrer älteren Schwester, mit der sie eigentlich aus gutem Grund gebrochen hatte.
Rosa ist die Ich-Erzählerin in »Nochmal von vorne«, dem neuen Roman von Dana von Suffrin, der nun, fünf Jahre nach ihrem gefeierten Debüt »Otto«, erschienen ist. Er erzählt die Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie, in der die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts voller Flucht, Vertreibung und Gewalt nachwirkt. Von Suffrin gelingt das Kunststück, sich dieser Geschichte mit einer leichtfüßigen Melancholie, detaillierten Beobachtungsgabe und einem feinen ironischen Humor zu nähern.
Der Roman spielt zwischen München und Tel Aviv. Mordechai Jeruscher hatte die Stadt für eine Promotion in Chemie verlassen, erzählt man sich in der Familie. Ganz genau weiß das aber niemand, in jedem Fall ging dabei etwas schief, denn Mordechai arbeitete als unscheinbarer Laborant, und vor einem Café in der Baaderstraße stolperte er über ein Paar ausgestreckter Beine. So begegnete er seiner späteren Ehefrau, die Israel vor allem aus Erinnerungen kannte: an ihre Zeit als Freiwillige im Kibbutz, an unbeschwerte Tage am Strand von Tel Aviv. Dort war sie auch Mordechais draufgängerischem Bruder begegnet.
Mit ihrer Schwangerschaft und der gemeinsamen Wohnung begann für Veronika das, was sie bald darauf nur noch ihren »Ruin« nannte. Veronikas linksintellektuell inspiriertes BohemeDasein verschwand mit den Suhrkamp-Bänden im Keller. Ihren Freiheitsdrang kanalisierte sie von nun an in aggressivem Verhalten und destruktiver Wut. Die Eheleute kommunizierten vor allem über stichelnde Bemerkungen und vorwurfsvolle Schlagabtausche. Beim Fernsehen sitzt das Paar auf der Couch so weit voneinander, »als seien sie in einem Wartezimmer beim Hautarzt«, schreibt von Suffrin.
Inmitten dieser lieblosen Konstellation sind Rosa und Nadja aufgewachsen. Mit dem Tod der Eltern endete für die beiden Schwestern ihre Kindheit. Schon im Titel des Romans klingt das Vorhaben der Ich-Erzählerin an, sich von diesen Erfahrungen endlich zu emanzipieren. Rosa möchte nicht nur zu einer einigermaßen kohärenten Erzählung ihrer schwer greifbaren Familiengeschichte finden, sondern auch jahrelang eingeübte Dynamiken hinter sich lassen. Mit Nadja verbringt sie das erste Mal seit ihrem Selbstmordversuch als Teenager wieder einen Tag zu zweit.
Die Schwestern beginnen vorsichtig, aber ehrlich über die Wahrnehmung ihrer eigenen Familiengeschichte zu reden. Dafür gehen sie weiter zurück als in die Zeit in der beengten Moosacher Wohnung. Rosa beginnt zu verstehen, was sie bislangnur bruchstückhaft angedeutet hatte: dass im Rumänien zur Zeit des Zweiten Weltkrieges einer von mehreren Schlüsseln für ein besseres Verstehen ihrer selbst liegt. Mit dieser Erkenntnis endet das Buch, das einen mit vielen Fragezeichen zurücklässt. Denn Rosa Jeruschers Erzählung über sich und ihre Familie ist mit »Nochmal von vorne« noch nicht abgeschlossen. ||
DANA VON SUFFRIN: NOCHMAL VON VORNE
Kiepenheuer & Witsch, 2024 | 240 Seiten | 23 Euro
Weitere Buchkritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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