In »Eine Arbeiterin« reflektiert Didier Eribon nicht nur über das Leben seiner Mutter, sondern auch über den Umgang mit pflegebedürftigen Menschen in unserer Gesellschaft – eine faszinierende Analyse des emotional betroffenen Sohnes und unbestechlich analysierenden Soziologen.

Didier Eribon. Eine Arbeiterin

Sieben letzte Wochen

didier eribon

Didier Eribon | © Pascal Ito/Flammarion/Suhrkamp Verlag

»Am Ende bin ich also nur zweimal in Fismes gewesen.« Fismes liegt im Nordosten Frankreichs und ist Welten von Paris entfernt, von jener Stadt, in der Didier Eribon vor Jahrzehnten seinem Leben als aus der Provinz stammender »Klassenflüchtling« eine Form gegeben hat und zu dem international renommierten Autor werden konnte, der er heute ist. In einem Pflegeheim in Fismes verbrachte Eribons Mutter die letzten sieben Wochen ihres Lebens.

Wie in »Rückkehr nach Reims« nimmt Didier Eribon einen biografischen Einschnitt zum Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit. In »Eine Arbeiterin« rekonstruiert er das Leben seiner Mutter, ihr Altern und ihr Sterben in einer Institution, die er von »struktureller Misshandlung« und »institutioneller Gewalt« geprägt sieht. Auch Madame Eribon äußerte sich viel über ihre unwürdige Behandlung.

Ungewollt geboren und aufgewachsen im Kinderheim, begann Eribons Mutter im Alter von 14 Jahren als Dienstmädchen für bürgerliche Familien zu arbeiten. Später verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Putzfrau und als Fabrikarbeiterin. Nach dem Tod ihres ungeliebten Ehemanns erlebte sie einige wenige Monate der Unabhängigkeit, in der auch ein neuer Mann für kurze Zeit in ihr Leben trat. Danach verlor Madame Eribon jede Lebenslust. Den Tod seiner Mutter deutet Eribon als »unbewussten Suizid«.

Ohnehin war sie »ihr Leben lang unglücklich«, schreibt Eribon, weil sie die Scheidung aus Angst vor ihrem brutalen Ehemann nicht gewagt hatte. Aber auch, weil ihr Geld, Verbindungen und Bildung für die eigene Unabhängigkeit fehlten. Als talentierter junger Intellektueller hatte sich Didier Eribon von den Beschränkungen seiner Herkunft zu befreien versucht und seine Verwandlung über den Kleidungsstil, die Art des Sprechens und andere Formen der sozialen Distinktion zum Ausdruck gebracht.

Eribons Herkunft und ihre Nachwirkungen sind das zentrale Thema seines Werks. Auch in seinem neuesten Buch neigt er weder zur Verdammung noch zur Romantisierung der Arbeiterklasse. Seine Mutter nimmt er dabei als politisches Subjekt ernst. Das beinhaltet einen klaren Blick auf ihren massiven Rassismus genauso wie ein Gespür für die politischen Implikationen ihres Traumes, ein draufgängerisches Leben als Rennsportfahrerin zu führen.

»Eine Arbeiterin« ist mehr als ein persönliches Porträt. Denn Eribon fragt auch danach, wie es gelingen könnte, alte Menschen als politische Gruppe zu mobilisieren und sich als »Wir« begreifen zu lassen. Dass dies bislang gescheitert sei, führt er unter anderem auf das Fehlen der Kategorie »Alter« in der westlichen Philosophie und im politischen Denken zurück. Eribon versucht, nicht nur seiner eigenen verstorbenen Mutter, sondern alten Menschen als Gruppe eine Stimme im politischen Diskurs zu geben. »Eine Arbeiterin« ist ein komplexes, berührendes und anregendes Buch. ||

DIDIER ERIBON: EINE ARBEITERIN. LEBEN, ALTER UND STERBEN
Aus dem Französischen von Sonja Finck | Suhrkamp, 2024 | 272 Seiten | 25 Euro

»EINE ARBEITERIN. LEBEN, ALTER UND STERBEN« – LESUNG MIT DIDIER ERIBON
Literaturhaus München, Saal | 18. April | 19 Uhr | Moderation: Vanessa Vu, Lesung: Stéphane Bittoun

Weitere Kritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


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