»Witches in Exile«: Eine erschütternde und wichtige Ausstellung. Ann-Christine Woehrl hat Frauen in Ghana fotografiert, die Opfer des kollektiven Wahns geworden sind.
Witches in Exile
Wie im Mittelalter
Jedes. Einzelne. Gesicht. Fotografiert vor einem schwarzen Tuch, umrahmt von den leuchtenden Stoffen der Kleider, Blusen und Röcke, kein Muster wiederholt sich. Fremde, ernste Gesichter, an denen man entlanggeht. Man beginnt auf Kleinigkeiten zu achten, wie die Hände liegen, die Tücher um den Kopf geschlungen sind. Die Haltung des Körpers. Die Blicke. Es sind nur Frauen, die meisten sehr alt. Sie leben oft schon seit Jahrzehnten in einem kleinen Camp in Ghana, ausgeschlossen aus ihrer Dorfgemeinschaft, fern ihrer Kinder und Familien – weil man sie beschuldigt, Hexen zu sein.
Die Münchner Fotografin Ann-Christine Woehrl ist 2009 und 2015 in die Hexendörfer Gushiego und Gambaga im Norden Ghanas gereist. Mit Hilfe eines Dolmetschers konnte sie Vertrauen aufbauen. Und porträtierte die Frauen, wenn sie von der Arbeit als Tagelöhnerinnen auf den Feldern zurückkamen: Einzeln auf einem Hocker sitzend, vor dem schwarzen Tuch, das Woehrl auf dem Markt gekauft hatte. Keine weitere Inszenierung. »Es war ihr Moment«, so die Fotografin, die ohne Stativ, aus der Hand heraus fotografierte – und in der Stille. Ein Dialog ohne Worte. Sprechend sind die Gesichter. »Gezeichnet von den inneren Wunden, die sie in sich tragen«, meint Woehrl.
Das Hexendorf ist ein schmerzhaftes Exil, aber auch ein Ort der Zuflucht, nachdem die Frauen jahrelang verfolgt und körperlichen Angriffen ausgesetzt, oft bis auf den Tod bedroht waren. Die Motive wiederholen sich: Sie seien verantwortlich für schwere Erkrankungen oder Todesfälle in der Gemeinschaft. Erschienen der Zweitfrau des Mannes in Alpträumen. Zogen als erfolgreiche Marktfrauen Neid und Missgunst auf sich. Oder auch nur: Jemand konnte Erdnüsse nicht bezahlen, und es war einfacher, die Frau, die das Geld verlangte, der Hexerei zu bezichtigen. Es braucht manchmal nicht viel, um Menschen auszugrenzen. Noch in rund 40 Ländern gibt es bis heute Hexenverfolgung. Seit im Jahr 2020 der Lynchmord an einer als Hexe beschuldigten Frau gefilmt und ins Internet gestellt wurde, werden in Ghana Versuche seitens der Politik und NGOs wie dem »Witch-hunt Victims Empowerment Project« unternommen, die Hexenverfolgung zu einem Straftatbestand zu machen. Aber es ist ein schwieriges Unterfangen, kulturelle Muster in den Köpfen zu verändern. »Der Glaube an Hexen ist tief verwurzelt in der ghanaischen Gesellschaft«, erzählt Ann-Christine Woehrl. Für rund 80 Prozent der Bevölkerung und durch alle Bildungsschichten hindurch ist er eine Realität, die man unhinterfragt annimmt, selbst die Opfer. Somit haben sehr viele Menschen Anteil an diesem System.
Betrachtet man diesen Systemgedanken, erscheint das Phänomen der Hexenverfolgung gar nicht mehr so fern und exotisch. Es ist eine frühe und sehr wirksame Verschwörungstheorie. Von kirchlichen wie weltlichen Machthabern durch die Jahrhunderte hindurch praktiziert, um Kontrolle auszuüben. Eine Hexe als Sündenbock hilft, soziale Unruhen einzudämmen; Hexen können effektiver bekämpft werden als Dürren, Katastrophen oder Pandemien. Die Menschheitsgeschichte variiert bis in den jetzigen Moment immer wieder antisemitische oder rassistische Angriffe, gegen Juden, Muslime, Flüchtlinge, auch gegen Menschen mit Behinderung, Andersaussehende oder Andersdenkende – es sind immer willkürliche Verfolgungen. Frauen im Iran werden getötet, weil sie keine Kopftücher tragen. Ehrenmorde finden in Familien statt. Auch Whistleblower oder Regimegegner tragen das Stigma der Ächtung, das ihnen ein repressiver Staat verleihen will. In der Social Media-Wirklichkeit der Gegenwart heult man gegen Geschlechter-, Queer- und Transidentitäten. Aber im Grunde kann jeder, der sich exponiert, heute im Netz angegriffen werden. Wäre es nicht so ernst: Die Anschuldigungen, die da im viralen Schlammsud kochen, ähneln in ihrer Logik durchaus einem Hexenbeweis, den ein ghanaischer Fetischpriester danach beurteilt, in welche Richtung der Kopf eines getöteten Huhns schaut.
Kollektivem Wahn lässt sich nur Individualität entgegensetzen. Auf den Fotografien zeigen sich die Frauen aus den Hexendörfern Ghanas in all ihrer Würde, in der Weisheit ihres Überlebens. Sie sind schwer traumatisiert. Selbst wenn gelegentlich eine Rückführung der alten Frauen in ihre Familien gelingt, erhalten sie niemals die Rolle zurück, die sie einmal eingenommen haben. Dennoch sieht man in ihren Blicken auch eine Art Trotz, einen Hoffnungsfunken, eine Selbstbehauptung, nicht nur Schmerz und Trauer. All diese aufflackernden Gefühlsströme durchziehen in tieferen Schichten die an sich ruhigen Gesichter. Es ist die Kunst der sensiblen Fotografin Ann-Christine Woehrl, dies in nur einem Bild eines Moments sichtbar zu machen. Da ist zum Beispiel die junge Frau mit Baby, die ein schwarzes Tuch um den Kopf geschlungen trägt. Die hell bestickten Punkte darauf umkreisen wie ein Sternenstrudel ihr Gesicht, im Mittelpunkt ihre Augen: ein ganzes Universum. ||
WITCHES IN EXILE
FOTOGRAFIEN VON ANN-CHRISTINE WOEHRL
Museum Fünf Kontinente München | Maximilianstr. 42
bis 5. Mai | Di–So 9.30–17 Uhr | Website | 21.3. | 19 Uhr | Witches in Exile revisited: Der Kampf gegen Hexenverfolgung im westafrikanischen Ghana | Ausgehend von persönlichem Erfahrungsbericht, ethnologischer Feldforschung und künstlerischer Auseinandersetzung diskutieren Ann-Christine Woehrl, Haruna Abubakari, Dr. Stefan Eisenhofer und Dr. Felix Riedel die zeitgenössische Hexenverfolgung in Nordghana aus verschiedenen Perspektiven (Moderation: Sarah Bergh-Bieling) | Eintritt frei
Weitere Besprechungen gibt es in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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