Dreimal spielte das Team um Burchard Dabinnus Mitte Oktober »Die Mühlengeschichte«, vor ausverkauften Reihen im HochX. Dokumentartheater, Familiengeschichte, Mahnung ins Heute und ins Morgen: Bettina Wagner-Bergelt hat das Stück fürs MF gesehen.

Die Mühlengeschichte

Und wer saß sonst noch am Tisch?

mühlengeschichte

© Franz Kimmel (4)

Das muss ja jetzt auch mal ein Ende haben. Ich finde, es ist Zeit, dass wir damit aufhören … Dieser provozierende Satz fällt so oder ähnlich am Anfang und am Ende des autobiographischen Theaterstücks »Die Mühlengeschichte« von Burchard Dabinnus. Ein Satz, der uns heute oft begegnet, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus, seinen Opfern und Verbrechern geht. Und sagen tun ihn diejenigen, die schon längst vergessen haben, oder nie Genaueres wissen wollten. Nicht so Burchard Dabinnus, Regisseur, Autor und Schauspieler, der zum wiederholten Mal tief in die Vergangenheit seiner Familie eintaucht und sie kritisch in den Kontext historischer Entwicklungen stellt. Die Großelterngeneration der jüdischen Familie Meyer und der Großgrundbesitzer Dabinnus pflegte enge und vertrauensvolle Geschäfts- und Nachbarschaftsbeziehungen, ist sich vielleicht sogar freundschaftlich verbunden gewesen, bis… ja, wie lange eigentlich? Das will der Enkel Billy Meyer Anfang der 2000er Jahre wissen und besucht die Nachfahren der Familie Dabinnus in München. Was mit einem harmlosen Plaudern beim Kaffeeklatsch beginnt, endet in einer gemeinsamen Spurensuche der Enkelgeneration und mündet 2023 in diesen spannenden und berührenden Theaterabend. Welcher Stuhl bleibt leer, wer fehlt und ist gleichzeitig über Generationen doch latent präsent?

Die Bühne ist leer bis auf ein paar Stühle, am Rande stehen vergilbte schwarz-weiße Fototafeln, große und kleinere Reproduktionen, Porträts der Beteiligten aus Vergangenheit und Gegenwart. Auch Briefe, Postkarten, die gezeigt und vorgelesen werden können, je nach dramaturgischem Bedarf. Text, Musik und Spiel sind eng ineinander verwoben, wechseln zwischen emotionaler Suggestivkraft und analytischer Kälte. Burchard Dabinnus und seine KollegInnen sprechen 90 Minuten lang in wechselnden Rollen, nachdenklich, klug und virtuos direkt zu uns Zuschauern, stellen unsere Fragen ebenso zwingend wie ihre eigenen, kommentieren, ziehen in Zweifel. Das scheinbar Offensichtliche kritisch beleuchtend, lassen sie uns teilhaben an ihrer Recherche und Aufarbeitung eines Beziehungsgeflechts zwischen der wohlhabenden jüdischen Familie Meyer, Inhabern einer gutgehenden Industriemühle zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und der Familie Dabinnus, Großgrundbesitzern in Ostpreußen, die die Dienstleistungen der Mühle gern und mit Überzeugung in Anspruch nimmt, bis Zuneigung, freundschaftlicher Umgang und das Vertrauen der Familie Dabinnus mit zunehmendem politischen Druck des nationalsozialistischen Regimes und angesichts eigener wirtschaftlicher Interessen immer mehr dem Misstrauen, dem sich breit machenden Gift der antisemitischen Propaganda und dem Eigennutz weichen. Jeder findet vor sich selbst Rechtfertigungen und Entschuldigungen, verharmlost sein eigenes Tun, verheimlicht seine eigentlichen Beweggründe, spielt sie herunter, um sich der Schuld am wirtschaftlichen Niedergang der Meyers, ihrer Verfolgung und zuletzt am Tod der Großelterngeneration im KZ nicht stellen zu müssen. Die SchauspielerInnen argumentieren als historische Figuren, Gutwillige ebenso wie brutale Gauleiter, willfährige Vollstrecker oder nachsichtige Juristen im Nachkriegsdeutschland. Wir Zuschauer finden uns im Netz von Zuneigung und Respekt, Ressentiment und Verleugnung, Mitläuferschaft und Mittäterschaft gefangen. So oder ähnlich kennen wir selbst die Geschichten unserer Eltern, Großeltern, aus Literatur oder persönlichen Erzählungen. Auf schreckliche Weise vertraut, zieht uns die Recherche von Burchard Dabinnus in ihren Bann, wird zu einem Synonym für unsere eigene Auseinandersetzung mit unserer persönlichen und der kollektiven Vergangenheit. Und führt uns letztlich zu der Frage: Wo stehen wir in diesem Stück und wie hätten wir uns verhalten? ||

DIE MÜHLENGESCHICHTE
12.-15.10.23 | HochX | weitere Stationen in Berlin und Bartoszyce sind in Vorbereitung

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