Die lettische Hauptstadt Riga gilt als Jugendstilmetropole und scheint mancherorts unwirklich schön. Vor allem, wenn man sie mittels des Romans »Das Bett mit dem goldenen Bein« von Zigmunds Skujiņš erkundet.
Indrikis Sturmanis. Das Bett mit dem goldenen Bein
Poetischer Zauber
»Dann rief der Pilot, dass Lettland unter ihnen liege, und zwischen den dunklen Flecken der Wälder und den grauen Rechtecken der Felder entdeckte Marta blasssilberne Seen, die sich wie geschmolzenes Blei in der Schüssel eines Wahrsagers ausbreiteten.« Als ich von meiner Lektüre auf- und aus dem Flugzeugfenster blicke, erkenne ich die Landschaft, die der lettische Autor Zigmunds Skujiņš so poetisch beschreibt. Im digitalen Zeitalter würden klassische Reiseführer zum Auslaufmodell, titelten kürzlich einige Tageszeitungen, Touristen nutzten zunehmend Apps. Ich stemme mich gegen den Trend und reise auf den Spuren eines opulenten Romans nach Riga. In »Das Bett mit dem goldenen Bein« blättert Skujiņš die Chronik der (fiktiven) Familie Vējagals über Generationen auf und verknüpft sie mit Ereignissen der lettischen Geschichte von 1860 bis 1980.
1984 im Original veröffentlicht, machte der Roman den 1926 geborenen Autor endlich berühmt – nicht zuletzt, weil viele Letten sich und ihre Ahnen darin gespiegelt sahen. Die erst im Herbst 2022 erschienene deutsche Übertragung war dieses Frühjahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Skujiņš hat das nicht mehr erlebt, er starb im März 2022 in Riga. Dort wohnte er zuletzt unweit des berühmten Jugendstilviertels rund um die Alberta Iela. Die bemerkenswert kurze Straße gilt als eine der schönsten vom Art-nouveau-Stil geprägten Straßen Europas. Acht reich mit Drachen, Löwen, Göttinnen und Masken verzierte, zwischen 1901 und 1908 entstandene Häuser sind staatlich anerkannte Denkmäler. Entworfen wurden sie von den Architekten Michail Eisenstein, Pauls Mandelštams sowie von Konstantīns Pēkšēns, dessen
ehemalige Wohnung in der Hausnummer 12 heute ein Jugendstilmuseum beherbergt – mit reizendem Personal, das die Gäste in historischer Kleidung empfängt. Ihren Namen verdankt die Albertstraße dem Bremer Bischof Albert von Buxthoeven, der Riga 1201 gegründet hat. Nahe der Ostsee am Fluss Daugava gelegen – die 25 Kilometer entfernte Rigaer Bucht ist heute der größte Kurort des Baltikums – stieg es schnell zur mächtigen Hafenstadt und zum internationalen Handelszentrum auf. Der Seefahrt und Landwirtschaft verdankten die Letten jahrhundertelang ihren Haupterwerb, schreibt Judith Leister im Nachwort zum Roman, sie beförderten die Entwicklung des Landes. Die Konkurrenz zwischen beidem verkörpern in Skujiņš’ Erzählung die Brüder Augustus und Noass, ein Bauer und ein Seefahrer. Dass die Vējagali in dem fiktiven Ort Zunte am Meer leben, lässt sich auch als Skujiņš’ Hommage an einen großen (Lügen-)Geschichtenerzähler lesen: Der deutsche Baron Münchhausen lebte einige Jahre in dem ähnlich klingenden realen Ort Dunte. Mit der Zeit verlagert sich die Handlung zunehmend nach Riga: »die Menschen waren gut gekleidet, die Schaufenster waren in schon vergessener Attraktivität geschmückt, aus den Cafés strömten verführerische Gerüche.«
All dies nimmt die oben erwähnte Marta wahr, als sie während des Zweiten Weltkriegs durch die Marijas Iela, die Marienstraße, eilt. Der Boulevard führt am Bahnhof vorbei und in seiner Verlängerung ins historische Zentrum. Prachtbauten lassen bis heute den Wohlstand der ehemaligen Hansestadt erahnen. Und wenngleich das Sowjetregime einige Gebäude zerstörte, wurde die Altstadt bereits 1979 als Jugendstilmetropole in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Im selben Jahr begann der Bau der Vanšu-Brücke, die sich über die Daugava spannt und zu einem weiteren Wahrzeichen führt: 2014 eröffnete Riga als Kulturhauptstadt Europas die neue Nationalbibliothek Lettlands. Das auch Lichtschloss genannte imposante Gebäude bietet im 13. Stock einen fantastischen Blick über die Stadt. Im Inneren zeugt das Buchregal der Völker vom verbindenden Wert der Literatur: Jeder Gast darf das riesige beleuchtete Regal mit einem beliebigen Buch bereichern – mit ein paar persönlichen erklärenden Zeilen auf der ersten Seite. »Das Bett mit dem goldenen Bein« führt ebenfalls in eine Bibliothek: als Schauplatz der schönsten – und tragischsten – Liebesgeschichte. Die dort arbeitende Vilma Vējagala verliebt sich in den deutschen Soldaten Willi und versteckt ihn bei sich zu Hause. Gedanklich nur noch bei Willi, empfindet sie ihr echtes Leben fortan als »reine Fiktion«. Bei mir ist es umgekehrt: Skujiņš erfundene Figuren begleiten mich auf all meinen Wegen durch Riga wie reale, lang vertraute Bekannte. ||
ZIGMUNDS SKUJIŅŠ: DAS BETT MIT DEM GOLDENEN BEIN
Aus dem Lettischen von Nicole Nau und mit einem Nachwort von Judith Leister | Mare, 2022 | 608 Seiten | 48 Euro
Infos zu Riga auf der Reiseseite
Nationalbibliothek
Jugendstilmuseum
Weitere Buchkritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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