Musik ist eine Sache. Aber Festivals sind heute mehr als das. Anmerkungen zu einer sich verändernden Konzertwelt.
Festivals heute
Nicht wie früher
Vielleicht hilft ein Blick in die Soziologie. Andreas Reckwitz geht in seinem Essayband »Das Ende der Illusionen« davon aus, dass die gesellschaftliche Gegenwart der Spätmoderne von einer »Positivkultur der Emotionen« geprägt ist. Der Maßstab für individuelles Handeln und gesellschaftliche Entscheidungen sind Selbstverwirklichungen in verschiedenen Disziplinen, nicht mehr mit dem Ziel einen vergleichbaren Standard zu erreichen, sondern der Erfüllung der Wünsche und der Entfaltung des Selbst bei gleichzeitiger gelungener Selbstdarstellung und Anerkennung eines hoch gewerteten Status. Romantik fusioniert mit Bürgerlichkeit, Selbstentfaltung mit sozialem Erfolg, trotz der Widersprüche im System.
Das bedeutet für die Kultur, dass die industriebürgerliche Leistungsschau auf der Bühne etwa durch Virtuosen, Wettbewerbe, einfache Superlative von einer konsumkapitalistischen »peak experience«, dem positiven Erleben höchster Intensität, abgelöst wird. »Idealerweise sollten alle Bestandteile des Lebens positive Emotionen bewirken«, heißt es weiter, verbunden mit dem besonderen Performanz-Anspruch des spätmodernen Subjekts: »Es will (und soll) sich auch vor anderen als glückliches, authentisches Subjekt in einem so anregenden und erlebnisreichen wie erfolgreichen Leben darstellen«.
Die Folgen dieser Lebenseinstellung sind vielfältig. Damit erklärt sich beispielsweise eine Basis des immensen Erfolgs von Großveranstaltungen, aber auch von Insider-Events, die ein hohes Performance-Niveau versprechen. Rammstein, Taylor Swift, Wacken, Coachella sind ebenso Kulturereignisse wie Plattformen der Selbstdarstellung. So wie der Tourist heute nicht mehr die Mona Lisa fotografiert, sondern sich selbst vor der Mona Lisa, sind auch das Böse-Buben- oder Post-Barbie-Image solcher Mega-Unternehmungen Möglichkeiten, die eigene Performance im Spiegel der (sozial)medialen Weltwahrnehmung zu optimieren. Kurz gesagt: Wer die Instagram/Tiktok-Trigger im Programm nicht mitdenkt, sollte kein Festival planen. Angesicht multiplizierter Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, einem Konkurrenzfächer von Streaming, Gaming, Gym, Reisen, Theater, Kino, Sport, Aktivitäten und Genuss verschiedenster Konsumprägung muss aus der Perspektive des Publikums gedacht werden: Wer braucht was für seine Anerkennung und wie kann er/sie damit die nötige Aufmerksamkeit generieren, die wiederum den Genuss auf der Ebene der Selbstverwirklichung und Wertschätzung durch andere gewährleistet. Der Inhalt wird damit schon beinahe zweitrangig, mehr Anlass und Anker als Ziel einer Veranstaltung.
Natürlich gibt es Abstufungen bei den Veranstaltungen des Sommers, die etwa an Geschichte, Alleinstellungsmerkmale, Nischenakzeptanz geknüpft sind. Das Jazzfestival in Saalfelden zum Beispiel zehrt von seiner langen Historie als experimentelles Klangzentrum und von ungewöhnlichen Orten für Konzerte. Das Gitarrenfestival in Hersbruck verbindet den instrumentalen Fokus mit einem ausgezeichneten pädagogischen Programm. Aber selbst etablierte Flaggschiffe des Kulturbetriebs wie die Bayreuther Festspiele spüren die Veränderung, wenn es in diesem Jahr plötzlich Karten zu kaufen gibt, ohne das bisher übliche Wartelistenprocedere der Eingeweihten. Die seit Corona übliche Kurzfristigkeit der Kaufentscheidung für Karten tut ein Weiteres dazu, Gewohnheiten zu verändern.
Sieht man sich dann Neugründungen wie das im vergangenen Sommer erstmals veranstaltete Superbloom Festival im Münchner Olympiapark an, dann fällt auf, dass genau diese aus der digitalen Welt gewohnte und über den einfachen Musikgenuss hinausreichende Vielfalt der Optionen im Analogen verwirklicht werden soll. Mehrere Bühnen mit Dutzenden von Künstlern und Konzerten im Showcase-Format ermöglichen Gig-Hopping am Gelände, ein wenig, als würde man sich durch Youtube-Kanäle wischen. Diverse Eigenwelten mit Tanz, Theater, Zirkus, Wissenschaft, Kunst, Catering, Nachhaltigkeitsinseln in architektonisch reizvollem Ambiente versprechen peak experiences auf möglichst vielen Ebenen. Das ist bestimmt noch nicht der veranstaltenden Weisheit letzter Schluss. Aber weist in eine Richtung, in die das Festivalbusiness sich entwickeln könnte. ||
Weitere Texte über Festivals in und um München (Theatron, Bayreuther Festspiele, Munich Summer Jazz Weeks, Phre Festival, Traunsteiner Sommerkonzerte) gibt es in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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