Jette Steckels Inszenierung von Tschechows »Platonow« alias »Die Vaterlosen« wird zur großen Ensembleleistung.

Die Vaterlosen

Lost Generation

die vaterlosen

Joachim Meyerhoff als Platonow im Stangenwald | © Armin Smailovic

»Nur die Geschichten enden gut, in denen ich nicht vorkomme«, sagt Platonow einmal, der Titelheld in diesem ersten Drama Tschechows, das Jette Steckel an den Kammerspielen inszeniert hat. Sie hat sich für einen alternativen Titel entschieden, der viel treffender ist, weil er das Problem, das Tschechow umkreist, auf den Punkt bringt: »Die Vaterlosen«. Denn dieser Text und dieser Abend sind im Grunde eher Zustandsbeschreibung als Drama, sie umkreisen eine Generation, die nach den Kriegshelden kommt, die ihre Väter waren, und vor den Jungen, die gegen all das Alte und Überkommene ankämpfen. Eine orientierungslose Generation.

Jette Steckel geht es nicht darum, sich zu Russland zu positionieren oder zu Putin: Sie holt diesen Text mühelos ganz nah zu uns, findet das Universelle in ihm. Wenn das Publikum den Saal betritt, sitzen auf der Bühne schon ein paar der Spieler*innen vor dem eisernen Vorhang, plaudern miteinander. Der Übergang von draußen nach drinnen, vom Alltag ins Theater wird fließend, nach und nach versammelt sich das Ensemble auf der schmalen Vorderbühne. Wiebke Puls hat eine Decke dabei, falls jemand Angst hat, »besonders müde zu werden« (immerhin dauert der Abend an die vier Stunden), und Joachim Meyerhoff ruft beim Betreten des Zuschauerraums aus: »Endlich sind wir da!« Realität und Drama sind hier nie hundertprozentig voneinander getrennt. Immer wieder wird die Spielsituation thematisiert, vielleicht wird es auch deshalb nicht langweilig: Es geht um uns alle. Um Lethargie, wo Aktion nötig wäre; um einen Rückzug ins Private; um eine patriarchale Gesellschaft und Machtstrukturen, die in allen Bereichen greifen. »Euch müsste man auslachen, wenn es nicht zum Weinen wäre«, sagt Wiebke Puls einmal als Generalswitwe zu diesen Männern. Und bringt damit ein aktuelles Gefühl auf den Punkt.

Der Castorf-Dramaturg Carl Hegemann führt bei jeder Vorstellung mit einem neuen »Gast« (oder einer »Gästin«) ein eineinhalbstündiges Gespräch, das sich immer wieder ins Bühnengeschehen schiebt. Die beiden werden von der Drehbühne herein- und wieder herausgefahren, ihre Dialoge reiben sich am Bühnengeschehen. Mal kommentiert ein Schauspieler ihre Thesen, dann wieder sie das Drama. Sie sind die Alten, die ein wenig abgehoben auf das Treiben der Jüngeren um sie herum blicken und auf fast alles eine Antwort haben. Auf der Website kann man das Format »Dad Men Talking« im Nachgang komplett abrufen, eine charmante Idee.

»Die Vaterlosen« ist ein wunderbarer Ensembleabend, aber auch Joachim Meyerhoffs Abend. Großartig, wie er die vielen Facetten dieses Platonow herausarbeitet, dieses übergriffigen, ichbezogenen, verletzenden, selbstmitleidigen, aber auch sehr witzigen Mannes, der schon recht hat: Eine Geschichte, in der er vorkommt, die kann kaum gut ausgehen. Keine Frau, die von ihm ungeküsst bleibt. Kein Nein, das er akzeptiert. Kein Ja, das er erwidert. In einer der stärksten Szenen an diesem durch und durch starken Abend trifft er sich mit Anna Petrowna, der Generalswitwe, zum Stelldichein im Stangenwald, den Florian Lösche auf die Drehbühne gebaut hat. Joachim Meyerhoff und Wiebke Puls spielen ein Begehren, das einem Kampf gleicht, auch einem mit sich selbst. Großartig, wie sie umeinander und miteinander ringen, wie sie einen Schritt vor macht und er zwei zurück – und wie sie schließlich halb nackt auf die Bäume flüchten aus Angst vor Entdeckung.

Es ist tatsächlich wahr geworden, was die Kammerspiele angekündigt haben: Hier ist er wieder, der Zauber dieses Theaters, der große Schauspieler*innen-Abend, das Drama auf der Höhe der Zeit. Fesselnd, lustig, tragisch, alles in einem. Wie schön, endlich mal wieder zu sehen, was dieses erstklassige Ensemble draufhat. Die Vorschau auf die kommende Spielzeit lässt hoffen: auf eine Rückkehr solch großer Abende. ||

DIE VATERLOSEN
Kammerspiele | 9. Juli | 18 Uhr | 10. Juli | 19.30 Uhr | 11. Juli | 19 Uhr | Tickets 089 23396600

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