George Orwells Dystopie »1984« beeindruckt als Oper von Lorin Maazel am Theater Regensburg.
1984
Der entmenschte Mensch
George Orwells Roman »1984« aus dem Jahr 1948 endet mit Gleichgültigkeit, die schlimmer ist als alle Folter und Gehirnwäsche zuvor. Lorin Maazels Oper nach der berühmten Vorlage verschwand nach der Londoner Uraufführung (2005) und Aufführungen in Mailand und Valencia in der Versenkung und erlebte nun ihre deutsche Erstaufführung in Regensburg in einer »Fassung für mittelgroßes Orchester« (Norbert Biermann). Das wird allenfalls bei den Streichern hörbar, denn die vielen Passagen, in denen tiefe Blechbläser dominieren, haben auch in dieser Version eine enorme Wucht und Kraft. Sie dominieren die erste große Liebesszene und bringen immer wieder Spannung in den Abend, vor allem wenn sie mit gellenden Flöten den düsteren Grund einer nun zum Spaltklang gespreizten Musik bilden, die physische wie psychische Gewalt potenziert. Das Philharmonische Orchester Regensburg ist unter Tom Woods seinen vielfältigen Aufgaben mit schillernder Farbigkeit und großer Präzision gewachsen.
Im Krieg gegen den Rest der Welt, singen die Ozeanier gleich zu Beginn nach täglich verordneter 2-Minuten-Hass-Orgie gegen den imaginären Gegner ihre Hymne als Synthese aus den Nationalhymnen dieser Welt. Immer wieder findet Maazel für Überwachung und Gängelung des Einzelnen packende Töne und nutzt geschickt die Opernkonvention der Rollenfächer: Da gibt es den Koloratursopran (mit mühelosen Spitzentönen: Kirsten Labonte in verschiedenen Rollen), den dramatischen Sopran (Theodora Varga als Julia), eine herausfordernde Baritonpartie (Jan Żądło als ihr Geliebter Winston) und einen heldischen Charaktertenor, bei dem Anthony Webb Winstons zwielichtigem Gegenspieler O’Brien perfekt gerecht wird. Dazu kommen Kinderund gemischter Chor als uniforme Masse, deren blaue Overalls eine Mischung aus Arbeits- und Kampfanzug darstellen und jegliche Individualität wie das Geschlecht nivellieren. Diese Kostüme entwarf Intendant Sebastian Ritschel und führte solide Regie auf Kristopher Kempfs Bühne, die vor allem aus variablen Metallgittern besteht, die sowohl Gefängnis sind wie sie jederzeit Ein- und Ausblicke erlauben. »Big Brother« sieht man zwischen einer computergenerierten »Wochenschau« mit milchigen Augen, als wären sie dank großer Hitze blind geworden und hört dazu eine verführerisch abgründige Stimme (Video: Sven Stratmann). Ganz ohne Musik gehen diese Intermezzi in unheimlicher Mischung aus steriler Brutalität und ästhetischer Glätte vielleicht am meisten unter die Haut. ||
LORIN MAAZEL/GEORGE ORWELL: 1984
Theater Regensburg | Bismarckplatz | 7., 11., 15., 19. Juli | 19.30 Uhr | Tickets: 0941 5072424
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