Die Ausstellung »(K)ein Puppenheim« zeigt im Stadtmuseum: eine überwältigende Fülle von Menschenbildern aus verschiedensten Kunstgattungen.

(K)ein Puppenheim

Ein Spiegel mit tausend Facetten

(k)ein puppenheim

Nicht zum Spielen gedacht – Puppenhaus aus der Gründerzeit | © Münchner Stadtmuseum

Gruselig ist das, wenn einen aus einer Riesenvitrine 400 Puppenköpfe unterschiedlichster Couleur anstarren. Wie im anthropologischen Museum. Aber sie stammen von Puppentheaterbühnen. Hier, körperlos aufgereiht, kann man sie nur schwer Identitäten zuordnen. Das erledigt per Video der Münchner Künstler Florian Freier: Er jagt sie durch eine Gesichtserkennungssoftware und bringt sie zum Sprechen. An der Wand gegenüber hängen künstlerische Porträtfotos aus dem 20. Jahrhundert, u.a. von August Sander, Bilder von Menschen in verschiedenen Rollen und Masken.

Das Münchner Stadtmuseum beherbergt eine große Puppentheatersammlung, die von 1984 bis 2022 als historisch aufgebaute Dauerausstellung zu sehen war, erweitert um den Bereich Schaustellerei. Anfang 2024 schließt das Stadtmuseum wegen der anstehenden Sanierung für voraussichtlich sieben Jahre. Als End-Coup und Ausblick in die Museumszukunft zeigt das Haus bis Januar die großartige Ausstellung »(K)ein Puppenheim«. Der Titel spielt auf Ibsens Emanzipationsdrama »Nora. Ein Puppenheim« an. Der Untertitel »Alte Rollenspiele und neue Menschenbilder« formuliert, worum es den vier Kurator*innen ging in dieser interdisziplinären Kooperation der Stadtmuseumsammlungen Puppentheater und Fotografie sowie der Sammlung Goetz. Sie fasst das Thema sehr weit und fächert mit historischen Objekten sowie über 500 Werken von circa 50 zeitgenössischen Künstler*innen, darunter viele prominente Namen, die Auseinandersetzung mit Puppen als Spiegel der Gesellschaft in Modellen, Fotos und Filmen auf. Der Ausstellungsdesigner Martin Kinzlmaier hat in der vorhandenen Vitrinenarchitektur einen spannenden Parcours mit Guckkastenbühnen, Einzelkabinetten und großen Videoflächen inszeniert.

Mascha Erbelding, Leiterin der Figurentheatersammlung, und Rudolf Scheutle, stellvertretender Leiter der Fotoabteilung (beide Stadtmuseum), sowie Karsten Löckemann und Pietro Tondello von der Sammlung Goetz haben zwei Jahre nach Verbindungen zwischen den Genres gesucht, nach Kontrapositionen, die zum Diskurs anregen. Das Ergebnis ist anspruchsvoll und inhaltlich überbordend. Im zweiten Saal schaut man ehrfürchtig auf ein großes, dreistöckiges Puppenhaus aus der Gründerzeit um 1870, gedacht zur Einübung großbürgerlicher Töchter auf spätere Repräsentationspflichten. In dessen 18 Räume stellt die Münchner Künstlerin Tunay Önder Kommentare zu weiblicher Selbstbehauptung wie Lippenstift und Nagellack oder die Frage, ob ein Penis ein Einzelzimmer garantiert. Der amerikanische Gegenentwurf ist ein neonbuntes Plexiglas-Luxushaus von Laurie Simmons. Die US-Künstlerin zeigt auch Filme wie »The Music of Regret« aus der glücklichen Küchenhölle. Rassismus und Unterdrückung thematisiert der Südafrikaner William Kentridge. Bühnenfiguren aus »Woyzeck on the Highveld« und Videos aus »Zeno at 4 a.m.« stehen neben einer satirischen Puppe von Belgiens König Leopold II. Und neben einer Szene aus »Caspar unter den Wilden«, einem Stück im Münchner Marionettentheater von 1859. Ein zur Warnung abgetrenntes Kabinett zeigt Kara Walkers bösen Scherenschnittfilm »Fall Frum Grace« über einen schwarzen Sklaven, den seine weiße Herrin zum Sex zwingt und der deswegen gelyncht wird.

(k)ein puppenheim

Auch das ist Figurentheater: Filmstills aus »The Music of Regret« von Laurie Simmons © the artist, Courtesy Sammlung Goetz, München

Die 13 Kapitel sind thematisch gegliedert, es folgen: »Liebe und Tod«, »Kriegsspiele«, »Japomanie«, »Moulin Rouge«, »Clowns«, »Kriegsspiele«, »Neue Menschenbilder«, »Menschen, Monster, Sensationen«, »Panoptikum« und »Karussell«. Sie spannen einen gewaltigen Bogen, der stets die historischen Objekte mit filmischen, fotografischen oder bildnerischen Perspektiven von Künstler*-innen aus dem 20. und 21. Jahrhundert konfrontiert. Jedes einzelne Exponat lohnt das genaue Ansehen. Die akribisch nachgestellte Werkstatt des Münchner Puppenbauers Walter Oberholzer, eine große süddeutsche Puppentheaterbühne, Ritter-Figuren der sizilianischen Opera dei Pupi. Ein lebensgroßer Lachclown, der sich auf Knopfdruck dröhnend schüttelt, daneben Cindy Shermans Horrorclown-Fotos. Zynisch-brutale Stop-Motion-Filme von Nathalie Djurberg über familiäre Abhängigkeit, ein Wachsfigurenkabinett mit anatomischen Darstellungen, dazu Fotos von Herbert List und eine surreale Videoarbeit von Meinhardt & Krauss, auf der ein halber Körper auf einem weißen Kleid herumkrabbelt. Varieté und Rummelplatz, futuristische Skulpturen aus Draht und Schrott – das Schauen nimmt kein Ende.

Wer sich ins Thema vertiefen möchte, muss viel Zeit einplanen – vor allem für die Filme. Es gibt ein informatives Begleitheft sowie eine eigens konstruierte Web-App mit Infos zu den Werken sowie Blicken hinter die Kulissen. Das Haus bietet Führungen (auch für Behinderte) und Mach-mit-Formate für Kinder an. Für kleinere Kinder ist die Ausstellung nicht geeignet – zu groß und komplex. Aber ausführlicher als hier kann man wohl nirgends in die Materie eintauchen. ||

(K)EIN PUPPENHEIM
Münchner Stadtmuseum | St.-Jakobsplatz 1 | bis 7. Januar 2024 | Di bis So 10–18 Uhr

Weitere Ausstellungsbesprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


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