Tanzen stiftet Gemeinschaft und kann als Protestform dienen. Das demonstriert die Künstlerin Marinella Senatore im Museum Villa Stuck.
Marinella Senatore
Dance First, Think Later
Der einführende Text zur Ausstellung von Marinella Senatore erklärt, die italienische Künstlerin schaffe mit ihren zwischen Kunst, sozialem Handeln und Agitation angesiedelten Projekten »Orte, an denen Menschen zusammenkommen«. In ihrem Fall Menschen, die ihrem Aufruf folgen und sich im normalen Leben so nie begegnen, sich vor allem nicht so nahe kommen würden, wie in den vorbereitenden Proben und der Parade selbst. Denn Senatore produziert nicht nur Bilder und Objekte, sondern veranstaltet große tänzerische Straßenparaden; die in München findet am 23. Juli statt, und auch in Salzburg gibt es zur dortigen ergänzenden Ausstellung im Museum der Moderne (bis 8. Okzober) eine Parade am 24. Juni.
Nicht nur ein Event, sondern eine Kunstaktion, ist doch die kreative, choreografierende, auswählende und entscheidende Person der Künstlerin allgegenwärtig. Sie wählt die Teilnehmer an ihren Paraden aus Obdachlosen, Behinderten, Flüchtlingen, sozial Benachteiligten aller Bereiche; auch alte und junge Mitbürger, Kinder, Communities, Vereine und Initiativen, Sportclubs, Trommler, Chöre, Blaskapellen, Pole Dancers, Hoolahuup-Gruppen, Break Dancer oder Volkstanz-Ensembles – von Derwischen bis zu schwulen Schuhplattlern – werden gecastet. Ihre Straßenumzüge, die inzwischen in unzähligen Städten der Welt von Paris bis Tokyo entstanden sind und mehr als 9 Millionen Menschen beteiligt haben sollen, stehen unter dem Motto »We rise by lifting others«, also: Wir wachsen, indem wir andere erheben, sichtbar machen.
In der Villa Stuck zu sehen ist die inspirierend lebendig gestaltete erste große Werkschau der mit 46 Jahren jungen italienischen Künstlerin. Sie studierte Violine und Gesang, Film und bildende Kunst, bewunderte den harmonischen Klang im Zusammenspiel großer Orchesterformationen und war schon seit früher Jugend politische Aktivistin und Kämpferin an vielen Fronten. Für die Gleichstellung der Frauen, gegen Diskriminierung Andersdenkender, gegen Rassismus und Fremdenhass engagierte sie sich. Diese existentiellen Erfahrungen verbindet sie in ihrer Kunst mit dem Wunsch nach einer tief empfundenen Gemeinschaft von Menschen durch künstlerische Aktion. Hunderte, manchmal tausende Menschen gestalten überall auf der Welt ihre Paraden, die gleichzeitig künstlerischer Ausdruck jedes teilnehmenden Individuums sein sollen und Demonstration von Stärke durch Schönheit. Sie alle ruft Senatore über Flugblätter und Zeitungsannoncen, in Autotouren mit Ansagen über Flüstertüten durch Städte und Dörfer auf, mitzumachen bei ihren bunten lauten Umzügen, in denen sie Tanz als Widerstand inszeniert, indem sie das Marschieren des Militärs, die voranrückenden Reihen bedrohlich-schweiender Demonstrationszüge umgestaltet und umwertet in bewegte, choreografierte Paraden von Menschen aller Couleur, die hier für einige Wochen der Vorbereitungszeit und die Stunden der Parade selbst ihre eigene Geschichte erzählen sollen, ihren Körper und ihr kreatives Potenzial ins Geschehen werfen, mit Freude, Energie und dem gelebten Wunsch nach Gemeinschaft, die so für eine kurze Zeit kreiert wird. »The School of Narrative Dance«, wie sie diese Paraden nennt, sind ein offener Ort zum gemeinsamen Handeln, Voneinanderlernen, Andere Inspirieren. Das ist ungeheuer sympathisch, einladend, demokratisch und voller Leben und setzt so viel positive Energie frei, dass einem warm ums Herz wird.
Man betritt nun die Ausstellung, denn in eine solche sind die Paraden jeweils eingebettet, und folgt dabei den kleinen und großen roten Fußabdrücken auf den Treppenstufen, die den Weg markieren im historischen Teil der Villa und in den Stockwerken des neuen Gebäudes. Zeichen wie die, die uns später im Verlauf der Ausstellung die Schritte unterschiedlicher Tänze vorgeben werden, die vielleicht in der Parade, dem Höhepunkt jeder Ausstellung von Senatore, getanzt werden: Füße geschlossen, und links zwei, drei, rechts zwei, drei … und drehen. Im oberen Stock der Villa finden wir uns unter einem bunten Wirrwarr von Fahnen und Bannern wieder, die Senatore auf Basis kostbaren Samts und anderer Materialien kunstvoll collagiert, genäht, gestickt und appliziert hat. Sprüche, Slogans und Parolen in verschiedenen Sprachen wie »It’s Time to Go Back to Street«, »Widerstand hat viele Gesichter«, »Seid mutig!« schmücken diese kunstvoll hergestellten Objekte. Hier wird der radikal politische Kontext, in dem Senatores Arbeiten und Projekte angesiedelt sind, recht deutlich. Sie ist als Aktivistin mittendrin in der politischen Aktion.
Die Exponate, die den weiteren großen Teil der Ausstellung ausmachen – Texte, Fotos, Zeichnungen, Collagen, Filme –, hängen an den mit überdimensionalen Schwarz-Weiß-Szenen aus Demonstrationen beklebten Wänden, auch werden Filmausschnitte projiziert und auf Monitoren abgespielt. Senatore kommentiert damit stets ihre aktuellen Aktionen und bettet sie ein in den radikalen politischen Kontext, aus dem heraus sie agiert, zeichnet mit Bleistift und Kreide Szenen des Widerstands, historische Demonstrationen wie Black Lives Matter oder die Frauen im Iran, die Schwarzen Mütter, die gegen die tödliche Polizeigewalt gegen ihre Söhne in den USA demonstrieren, Studentenproteste der 60er Jahre, Skulpturen von Pussy Riot, mit denen sie als Aktivistin Kontakt hatte, und anderes.
Daneben präsentiert sie vielschichtige Collagen in kleinen Formaten, die all die Bestandteile zusammenfügen, aus denen ihre Kunst besteht: Sie zeigen moderne Tänzerinnen – etwa eine aufrüttelnde Serie mit Martha Graham als zentralem Motiv – oder junge Frauen im klassischen Tutu, in symmetrischen Formationen, eingebunden in eine Corps de ballet-Szene eines Handlungsballetts vom Typ »Schwanensee« oder »La Bayadère«, dazwischen Polizisten, Soldaten mit gezogener Waffe, am Boden liegende Opfer, Straßen, Bäume und den unschuldig blauen Himmel. Harmlos auf den ersten Blick muten diese Szenen an und lassen doch ganz schnell die Gefahr, die tödliche Bedrohung spüren. Und daran schließt sich folgerichtig auch ihre Aussage, sie begreife ihren gesamten Kunst- und Aktionskosmos als große Collage, als die Technik, die ihre kreative Praxis am genauesten definiere. Besonders stark wirken allerdings auch ihr Film »Siamo noi« über die Minenarbeiter von Enna in Sizilien, der ihr unglaubliches Gespür für emotionale Bildwelten zeigt, und das Hörspiel »Estman Radio Drama« von 2011/23, das sie mit Arbeiterinnen aus Marghera, dem berühmt-berüchtigten Chemie-Industrieviertel vor Venedig produzierte. Hier wie in all ihren Arbeiten herkömmlicher Genres zeigt sich Marinella Senatores sensible, auf den Menschen bezogene Gestaltungskraft zwischen politischem Handeln und künstlerisch-sozialer Aktion. ||
MARINELLA SENATORE. WE RISE BY LIFTING OTHERS
Museum Villa Stuck | Prinzregentenstr. 60 | bis 10. September | Di bis So/Fei,11–18 Uhr | Ausstellung in Salzburg | Das Begleitbuch (Hatje Cantz, Deutsch/Englisch, 264 S., 150 Abb.) kostet im Museum 43 Euro
Weitere Besprechungen finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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