Ursula Meiers aufwühlendes Drama »Die Linie«, das im vergangenen Jahr im Wettbewerb der Berlinale lief, erzählt von einem komplexen Familienstreit.

Die Linie

Auf Abstand

die linie

Dramatische Wucht: Margaret vor dem Bergpanorama im Schweizer Kanton Wallis | © Piffl Medien

Schon im Vorspann fliegen die Fetzen. Und die Schallplatten. Und die Obstschalen. Margaret (Stéphanie Blanchoud), etwa Mitte dreißig, attackiert und verletzt ihre Mutter Christina. Infolge der Tat wird Margaret mit einem Kontaktverbot belegt: für drei Monate muss sie mindestens 100 Meter Abstand von Christina halten – andernfalls wandert sie ins Gefängnis. Die Verstoßene, die zuvor (wieder) bei ihrer Mutter lebte, ist nun also auch wohnungslos und wendet sich an ihren ehemaligen Bandkollegen (und Ex-Partner?) Julian. Wunderbar zurückhaltend gespielt von Benjamin Biolay ist er der exakte Gegenpol zur aufbrausenden Margaret. Er nimmt sie bei sich auf, betont aber zugleich: »Nächstes Mal kommst du nicht mehr rein.«

An diesem Punkt ist längst klar, dass Margarets Aussetzer nicht der erste Vorfall dieser Art gewesen sein kann. Das zeigt sich auch im komplexen Verhältnis von Margaret zu ihren zwei jüngeren Schwestern. Während die schwangere Louise (India Hair) bereits ein bürgerliches Leben führt und sich aus dem Konflikt herauszuhalten versucht, steht die 14-jährige Marion (Elli Spagnolo in ihrem herausragenden Schauspieldebüt) zwischen den Fronten, hin- und hergerissen zwischen Mutter und Schwester, die sie gleichermaßen liebt.

Marion ist es auch, der die Idee zur titelgebenden Linie kommt: Sie markiert den Abstand von 100 Metern (»die Zone«) mit Farbe und Pinsel und macht die gesetzlich verordnete Ausgrenzung so im Raum sichtbar – ein simpler, aber genialer inszenatorischer Kniff von Regisseurin Ursula Meier. Die Linie ist jedoch für Marion kein Zeichen der Abweisung, sondern der Versuch, eine Eskalation zu verhindern und den Frieden zu wahren. So lässt sie sich von Margaret im Freien auf der Linie Gesangsunterricht geben; nicht so sehr für sich, sondern weil sie weiß, dass Margaret nur beim Musizieren voll in ihrem Element und mit sich im Reinen ist.

Denn während die Linie trennt, ist Musik das verbindende Element des Films und seiner Figuren. Mutter Christina (wie immer toll: Valeria Bruni Tedeschi) war erfolgreiche Konzertpianistin; Margaret ist als Singer-Songwriterin eine lokale Größe. Überhaupt haben die beiden mehr gemeinsam, als sie sich jeweils eingestehen wollen – auch wenn gerade ihre beiderseitige Sturheit nicht selten zu Konflikten führt. Diese stehen in krassem Kontrast zum beeindruckenden Bergpanorama des Wallis, das den gesamten Film über den gleichmütigen Hintergrund für die menschlichen Dramen bildet, die sich davor abspielen. Oft sehen wir Christinas Haus von außen, also aus der Perspektive von Margaret; einerseits transparent ob der großen Glasfront und zugleich gewissermaßen unerreichbar. Eingefangen wird das so naturalistisch wie poetisch von Kamerafrau Agnès Godard.

Der Film ist, wie seine Protagonistin, voller Widersprüche: Margaret leidet massiv unter der erzwungenen Trennung von ihrer Mutter, hat aber selbst ein Problem mit zwischenmenschlicher Nähe. Ihre sehnsüchtige Suche nach Zärtlichkeit und Geborgenheit geht einher mit der Unfähigkeit, diesen elementaren Bedürfnissen angemessen Ausdruck zu verleihen. »Die Linie« erzählt unsentimental und doch einfühlsam von diesem Dilemma. Zur Versöhnung bräuchte es letztlich nur einen Schritt. Über die Linie. Über den eigenen Schatten aufeinander zu. ||

DIE LINIE
Schweiz, Frankreich, Belgien 2022 | Regie: Ursula Maier | Buch: Stéphanie Blanchoud, Ursula Meier, Antoine Jaccoud | Mit: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo | Spielfilm 102 Minuten | Kinostart: 18. Mai | Website

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