Mathias Spaan bringt Tom McCarthys Roman »8 1/2 Millionen« als kluges Metadrama auf die Bühne des Volkstheaters.
8 1/2 Millionen
»Bin ich eine reale Person?«
Das beliebte Partyspiel »Wer bin ich?« ist in vollem Gange. »Elon Musk« steht auf einem Post-it, »Söder« auf einem anderen. Nach und nach klopfen vier Partygäste ab, ob sie ein Mensch seien, noch am Leben, Mann oder Frau. Doch einer von ihnen fragt immer wieder: »Bin ich eine reale Person?« Gelächter. Will er das »Nein« nicht akzeptieren, oder kann er sich wirklich nicht erinnern, dass er dieselbe Frage schon mehrfach gestellt hat?
Tatsächlich hat der namenlose Protagonist in Tom McCarthys 2008 erschienenem Roman »8 1/2 Millionen« sein Gedächtnis verloren. Ein Unfall hat ihn seine Erinnerungen gekostet, dafür das latente Gefühl hinterlassen, in einer falschen Realität gelandet zu sein. Nichts wirkt mehr real, alle Handlungen einstudiert, alle Mitmenschen wie Statisten. Seine Gegenreaktion: Er reinszeniert die wenigen Erinnerungsfetzen, die ihm bleiben, bis ins kleinste Detail, um wieder Authentizität erleben zu können.
Regisseur Mathias Spaan bringt diese inszenierte Wirklichkeit auf die Bühne 2 des Volkstheaters, katapultiert den Namenlosen damit an den Ort, an dem das Reenactment Teil des Deals ist, und fügt dem Spiel im Spiel damit noch eine weitere Metaebene hinzu. Karg ist die Bühne eingerichtet – eine Telefonzelle und eine Treppenkonstruktion stehen nebeneinander, die Hebebühnenelemente fahren bei Bedarf nach oben. Bruchstücke einer Hauswand hängen über der Szenerie. Materialisierte Erinnerungsfetzen sind diese zusammengewürfelten Elemente und an die klammert der Namenlose sich mit aller Kraft. Sein Ziel: Die reale Welt wieder so in einen Flow zu bekommen, dass sie sich nicht mehr »fake« und »secondhand« anfühlt.
Achteinhalb Millionen Pfund hat er von der Versicherung als Entschädigung erhalten und kann seinem Wahn nun freien Lauf lassen. Eine Agentur muss immer weiter nach seinen Vorgaben künstliche Realität erzeugen, um seinem Traum von der Authentizität nachzujagen. Häuser werden gebaut, ganze Heerscharen an Statisterie engagiert. Die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung wird bis zur Erschöpfung geprobt. Damit versucht der Namenlose die Dialektik vom richtigen Leben im falschen aufzulösen. Wo hört das Spiel auf und wo fängt die Wirklichkeit an? Mit ad absurdum ineinander verschachtelten Fragen stellt Spaan nicht nur die Wirklichkeit infrage, sondern auch die Mittel des Theaters auf die Probe. Mit seinem Kontrollwahn will der Namenlose nichts mehr demZufall überlassen. Doch je minutiöser und akribischer er arbeitet, desto weiter entgleitet ihm die Realität, ohne dass er es merkt.
Gemeinsam mit seinem Dramaturgen Leon Frisch hat Spaan den komplexen Roman auf seine theatralen Momente komprimiert und schöpft deren Möglichkeiten voll aus. »Bin ich eine reale Person?« Die Identitätskrise des Partyspiels klebt wie eine trübe Wolke an dieser Figur und wird zur universellen Sinnfrage. Spaan lässt Jan Meeno Jürgens, Steffen Link, Janek Maudrich und Liv Stapelfeldt reihum in diese Rolle schlüpfen, jeweils andere Persönlichkeitszüge ausprobieren und visualisiert damit das innere Vexierspiel dieser zutiefst verunsicherten Person als allgemeingültiges Drama. Mal chorisch, mal im Dialog oder Monolog lässt er die vier Authentizität und somit den unauflösbaren Widerspruch proben. Das klingt hochgradig kompliziert, doch ist Spaan seinem Protagonisten immer einen Schritt voraus: Der Balanceakt aus vertrackter Gehirnverknotung und Gedankenspiel, er wird in seinen Händen zu einem überaus flüssigen und unterhaltsamen Abend. ||
8 ½ MILLIONEN
Volkstheater | Tumblingerstr. 29 | 29., 30. Jun | 20 Uhr | 22. Feb. | 20 Uhr | Tickets 089 5234655
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