Im Marstall wachsen Pilze in Nora Schlockers Urinszenierung von Kevin Rittbergers »Der Entrepreneur«.
Der Entrepreneur
Aus der Kritze lernen
Im Wald stehen Bäume und wachsen Pilze. Beide unterhalten miteinander, wie man seit einiger Zeit weiß, eine symbiotische Beziehung zum Austausch von Information und Nahrung. Dass sich Pilze aber selbst zu einem veritablen Baum auswachsen können, mit einem hohen und festen Stamm, der selbst wiederum Schwämme beherbergen kann, hat man so noch nicht gesehen und gab es bislang auch noch nicht. Doch nun haben die Bühnenbildnerinnen Jana Findeklee und Joki Tewes zusammen mit dem Institut für Naturstofftechnik der TU Dresden pioniermäßig Möglichkeiten erforscht, Pilzmyzele in vorgegebene Formen wachsen zu lassen, eine nachhaltige Methode, die sich sowohl für Gebrauchsgegenstände als auch für Bühnenbildteile einsetzen lässt, auch wenn das Tempo dann doch noch nicht für all die Baumstammattrappen gereicht hat, die gleich einem Säulenwald auf der Zuschauertribüne des Marstalls verteilt sind.
Ebenso visionär will auch »Der Entrepreneur«, Titelheld des gleichnamigen Auftragswerks von Kevin Rittberger für das Residenztheater, die drängenden Fragen der Zeit, heruntergebrochen auf die Zukunft seiner Firma, angehen. Kurz vor einem Midlife-Kollaps, verursacht durch Überarbeitung und einen üppigen Cocktail aller möglichen verfügbaren Drogen und Aufputschmittel, macht sich bei ihm wie bei vielen die logisch nicht von der Hand zu weisende Erkenntnis breit, dass es so nicht weitergeht. Die Konsequenz, die er nach dem Erwachen aus dem Koma daraus zieht, ist allerdings nicht das übliche Optimierungsprogramm für Best Ager, sondern ein radikaler System Change, weshalb in Nora Schlockers Urinszenierung alle Mitwirkenden schwere Baumstämme schleppen und einmal auch die Zuschauer komplett die Seite wechseln müssen. Doch die Lust an der Krise, eigentlich ein viel zu schwaches Wort – »Wollen wir nicht einfach Krissel sagen! Oder Kritze!«, heißt es im Text –, führt zu euphorischen Entwürfen mit ebenso berechtigter Skepsis – vom engstirnigen Ich zum großen herrschaftsfreien Wir oder gar Wiren, denen allerdings in entscheidenden Momenten schon mal die Puste ausgeht, bis hin zu einer humorfähigen KI der Zukunft mit höchst realen Selbstzweifeln und Pubertätsproblemen.
Aber zurück zum Neuanfang: Einer spontanen Eingebung folgend hat der Entrepreneur den Familienbetrieb in ein Syndikat umgewandelt, das nun den ehemaligen Angestellten gemeinsam gehört. Doch die sind gar nicht glücklich darüber, dass sie jetzt ohne Führung nur noch halb so viel arbeiten, dafür aber auch Verantwortung übernehmen müssen, ganz zu schweigen von der bis ins Mark ihres Urvertrauens getroffenen Mittelklassetochter angesichts der multiplen Katastrophenlage »Gletscherschmelze, Kontoschmelze, Ich-Schmelze.«
Um auch die Spiel- und Sehgewohnheiten den neuen Denkanforderungen anzupassen, verordnet Regisseurin Schlocker ihrem siebenköpfigen Team ein fortwährendes Role-Sharing. Hat Robert Dölle nach seinem furiosen Einstiegsmonolog auf Speed gerade souverän den Switch zum sanften Achtsamkeitsapostel vollzogen, reicht er seinen Anzug-Overall schon an die aufgekratzte Nicola Kirsch weiter, während er selbst im Verlauf des Abends auch noch in die Rolle der Ehefrau schlüpft, die von Lisa Stiegler zuvor als zynische Scheidungsanwältin angelegt wurde. Das ist so verwirrend und holperig, wie sicherlich auch die skizzierte Transformationsphase ablaufen würde, wären wir nur schon so weit, sie ernstlich in Angriff zu nehmen. Im finalen Zoom-Meeting dürfen dann alle multipliziert zur imaginären Weltcommunity einer wiedererstandenen Räterepublik das Wort reden und zuversichtlich Pilzbäume in den Himmel schießen lassen. ||
DER ENTREPRENEUR
Marstall | 8., 24., 26. Jan., 18. Feb. | 20 Uhr (So 19 Uhr) | Tickets: 089 2185 1940
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