Ali Abbasis neuer Film »Holy Spider« über eine Serie grausamer Frauenmorde in Iran könnte aktueller nicht sein. Eine Annäherung an den Film und seinen Regisseur.
Holy Spider
Iran noir
Ali Abbasis »Holy Spider« wäre unter normalen Umständen schon ein Film, der die Leidensfähigkeit seiner Zuschauer*innen herausfordert, angesichts der aktuellen Nachrichtenlage im Iran werden einige seiner Szenen beinahe unerträglich. Für seinen dritten Kinofilm hat sich der im Iran geborene und dort aufgewachsene Abbasi einen realen Kriminalfall vorgenommen und diesen in Form eines schonungslosen Serienmörderdramas verfilmt.
»Holy Spider« versetzt das Publikum zurück ins Jahr 2000 bis 2001, den Zeitraum, in dem eine erschreckende Verbrechensserie die iranische Stadt Mashhad heimsuchte. Ali Abbasi hat den Handlungsort seines Films nicht beliebig gewählt. Nicht nur ist Mashhad der reale Handlungsort der Mordserie, die Stadt ist hinsichtlich des aktuellen Konfliktes im Land einer der wichtigsten Schauplätze. »Mashhad ist ein sehr besonderer Ort. Die Stadt ist das religiöse Zentrum in Iran und gleichzeitig eine weltliche Metropole«, sagt Abbasi im Interview. »Die Stadt verändert ihr Gesicht nachts im Unterschied zum Tag vollkommen. Tagsüber ist es eine staubige Industriestadt, wie so viele im Mittleren Osten, nachts aber erwacht das organisierte Verbrechen, der Drogenhandel und die Prostitution.«
Eine Stadt, wie gemacht für einen Film noir, wie Abbasi findet. Das Setting seines Filmes betreffend ergänzt er: »Eine Stadt ist immer zugleich ein geografischer, aber auch ein mentaler Ort.« Tatsächlich lebt sein »Holy Spider« auf beeindruckende Art von der Atmosphäre seines Handlungsortes. Etwas Unaussprechliches scheint in dieser Stadt immerzu in der Luft zu liegen. Es ist die junge Journalistin Rahimi, die aufgrund eines anonymen Tipps beginnt, in dem Fall zu ermitteln, der bereits mehrere junge Frauen – allesamt Prostituierte – das Leben gekostet hat. Mit ihrer Recherche macht sich Rahimi nicht beliebt in der Stadt. Von den sittenstrengen und konservativen Männern wird sie immerfort angeschnauzt und misstrauisch beäugt. Die junge weltgewandte Frau scheint den Polizisten, die sie im Laufe ihrer Recherche befragt, suspekter zu sein als der gesuchte Mörder. »Es gibt einen tief sitzenden Frauenhass in Iran. Und gleichzeitig verändert sich das Land rasant.« Von dieser Veränderung erzählt »Holy Spider« in Form seiner Protagonistin, die von der iranischen Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi als Frau verkörpert wird, die sich mit den frauenverachtenden Verhältnissen im Land nicht länger abfinden will. Nacht für Nacht begibt sie sich auf die Straßen, in denen Prostituierte auf ihre Freier warten. Rahimi hofft auf eine heiße Spur. Dem metaphorischen Feuer kommt sie bei der Arbeit schließlich näher, als ihr lieb ist.
Ali Abbasis Kino ist eines, das sich seiner Räume und Geometrien, innerhalb derer sich die Handlung entwickelt, stets bewusst ist. Die Erwartungen des Publikums hinterläuft Abbasi mit geschickten Irreführungen und Andeutungen. Mashhad verwandelt sich in »Holy Spider« in der Nacht in ein höllisches Labyrinth. Den genauen Blick für Räume und Sichtachsen hat sich Abbasi in seinem Architekturstudium erarbeitet. Laut eigener Aussage hat er in ihm enorm viel für sein späteres Filmemachen gelernt. »In meinem Studium habe ich erfahren, wie man Dinge auseinanderbaut, um sie neu zu kombinieren.« Gute Filme und gelungene Architektur verbindet laut Abbasi eines: »Die Genauigkeit, die man den Details schenkt.«
Für seine Zuschauer:innen ist »Holy Spider« kein klassisches »Whodunnit« im Sinne einer Mördersuche. Wer der Killer ist, das erfahren wir schon früh im Film. Hinter den unheimlichen Taten steckt ein Jedermann, ein Typ, wie er banaler nicht sein könnte. Sein Name ist Saeed Hanaee, ein unscheinbarer Familienvater. Gespielt wird er vom Schauspieler Mehdi Bajestani. Den Taten des von ihm verkörperten Serienmörders wohnen wir minutiös bei. Es sind jene Szenen, die angesichts der realen Morde des Mullah-Regimes an den jungen Protestierenden des Landes fast nicht auszuhalten sind. Denn sie machen eines klar: verantwortlich für die Morde ist hier nicht der Mörder Hanaee allein. Seinen Taten liegt vielmehr eine gefährliche Ideologie zugrunde – eine extremistisch-religiöse. Eine Ideologie, wie sie nur in der Gemeinschaft entsteht. Und die in Iran so weit in die Gesellschaftsverhältnisse vordringen konnte, dass sie einen institutionellen Apparat ausbildete. Es ist der Apparat, dessen Schergen heute in den Straßen der Städte Teheran, Mashhad oder Isfahan wüten und ein Verbrechen nach dem anderen an der Jugend des Landes begehen.
Ali Abbasi sieht sich heute als europäischen Filmemacher. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt er nun schon hier im Westen. Er verließ in etwa zur selben Zeit Iran, als sich in Mashhad die reale Mordserie vollzog. »Europa ist für mich der einzige Ort, an dem wirklich Redefreiheit herrscht. Und das wirkt sich auf die Filme aus, die hier produziert werden. Durch die Freiheit konnte ein transgressives Kino entstehen.« Womit Abbasi dezidiert auch seine eigenen grenzgängerischen Filme meint. Seine beiden vorherigen Produktionen »Shelley« und »Border« haben ihre Wurzeln tief im Genrekino. Im Fantasydrama »Border« ließ Abbasi zuletzt eine Protagonistin ausgestattet mit übernatürlichem Geruchsinn die Grenzen der Menschlichkeit erkunden. Für seinen neuen Film hat er einen naturalistischeren Ansatz gewählt. »Ich mag es, mich von Film zu Film zu verändern«, so Abbasi, »Ich habe keine typische Handschrift als Filmemacher, so wie zum Beispiel Wes Anderson. Ich verändere mich als Person ständig, und daher verändern sich auch meine Filme.«
Ali Abbasis Filme haben aber auch eine Gemeinsamkeit – ihre Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Außenseitern. Die einen werden in seinen Filmen zu tickenden Zeitbomben.Ein bisschen wie die Männerfiguren in den Filmen von Paul Schrader. Die anderen verwandeln ihr Ringen mit der Gesellschaft in einen Kampf um Autonomie und Freiheit. So auch die Heldin des Films »Holy Spider«. Sahra Amir Ebrahimis Figur der Investigativjournalistin Rahimi wird hier zu einer wahren Ikone im Kampf um Gerechtigkeit. Unter den aktuellen Gegebenheiten wäre es undenkbar, einen Film wie »Holy Spider« in Iran im Kino zu zeigen. Der Filmemacher Ali Abbasi will den Traum nicht aufgeben, dass dies eines Tages möglich sein wird. ||
HOLY SPIDER
Dänemark, Deutschland, Frankreich, Schweden 2022 | Regie: Ali Abbasi | Drehbuch: Ali Abbasi, Afshin Kamran Bahrami | Mit: Zar Amir Ebrahimi, Mehdi Bajestani u.a. | 117 Minuten | Spielfilm
Kinostart: 12. Januar | Website
Weitere Filmkritiken finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Carry Brachvogel: Eine Münchner Autorin
Freibad: Doris Dörrie im Interview
DOK.fest 2022: Ein Blick ins Programm
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton