In »Crimes of the Future« erkundet David Cronenberg erneut die Psychopathologien der Zukunft.
Crimes of the Future
Requiem der Erschöpfung
Der kanadische Horrorfilmregisseur David Cronenberg spielt in der Fernsehserie »Star Trek Discovery« derzeit einen Psychiater im 30. Jahrhundert. Zu seinen Analysanden zählt unter anderem eine weit entwickelte Künstliche Intelligenz, deren versteckte Bewusstseinsebenen Cronenberg ebenso versiert auskundschaftet und seziert wie das Seelenleben der menschlichen Raumschiffbesatzung. Dieser gestrenge Psychoanalytiker im fernen Sternenzeitalter ist deshalb eine so grandiose Rollenbesetzung, weil Cronenberg immer schon eines war: ein begnadeter Futurologe des Seelenlebens. Wo andere Regisseure die Science-Fiction gerne als großen Kinderspielplatz für ihre ausgiebigen Materialschlachten begriffen und Spekulation nahezu ausschließlich im Hinblick auf unsere technologische Fortentwicklung betrieben, entwarf David Cronenberg immer schon lieber seine Charakterkunden bevorstehender Epochen. Weshalb sich seine Filme oft auch nach Zukunft anfühlten, obwohl sie in der Gegenwart verankert waren.
In seiner J. G. Ballard-Adaption »Crash« aus dem Jahr 1996 etwa geilt sich eine Bande von Karambolage-Fetischisten an tödlichen Autounfällen auf, die sie minutiös nachstellen. Sie entwickeln dabei eine hartnäckige Begierde nach dem Verschmelzen mit Metall und Technologie, die Cronenberg auch in »eXistenZ« (1999) und zuvor schon in »Videodrome« (1983) umtrieb, in dem es um die elende Gewaltpornografie eines Privatsenders geht. Mit Psychopathologien der Zukunft beschäftigt sich Cronenberg auch in seinem neuesten Kinofilm »Crimes of the Future«, in dem er ein Motiv aus den zuvor genannten Titeln reaktiviert, jenes einer Erotik der klaffenden Wunde.
Das Ehepaar Saul (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux) hat sich auf eine besondere Performancekunst spezialisiert, auf Live-Operationen bei vollem Bewusstsein.Gegenstand der von Caprice handwerklich versiert durchgeführten Eingriffe: ihr eigener Ehegatte. Bei den Gewebeklumpen, die sie ihrem Mann vor einem ergriffenen Publikum herauspräpariert, handelt es sich um genetische Mutationen, die Saul nicht allein aufweist. Die Menschheit als solche scheint in »Crimes of the Future« vor einer neuen Evolutionsstufe oder wahlweise vor einer ungeahnten neuen Plage zu stehen. Den wüsten, postapokalyptischen Gestalten, die Cronenberg in einer Welt herumschleichen lässt, in der sich eine nicht näher benannte ökologische Katastrophe vollzogen zu haben scheint, wachsen in einem Mordstempo zusätzliche Organe, deren metabolische Funktion sich zunächst nicht offenbart. Außerdem ist der Menschheit mehrheitlich das Vermögen abhandengekommen, Schmerz zu empfinden.
Es scheint nun eine verbreitete sexuelle Praxis zu sein, einander Wunden beizubringen. Die junge Angestellte einer Regierungsbehörde (Kristen Stewart), die mit der Aufgabe betraut wurde, ein Verzeichnis der neuentstandenen Organe in der Bevölkerung zu erstellen, zeigt an Saul ein etwas größeres Interesse als nur an dessen gesteigertem Zellwachstum. Einen Cop (Welket Bungué) gibt es in der ganzen absonderlichen Chose auch noch. Er ist auf der Spur einer irren Splittergruppe, die die Zukunft der Menschheit in einer synthetischen Lebensform sieht. In langen Einstellungen sehen wir Saul im Bett ruhen, das permanente Wachstum seiner unheimlichen Wucherungen erschöpft ihn zusehends. Bei seiner Schlafstelle handelt es sich in Wirklichkeit um eine biosynthetische Apparatur, eine schauerliche Vorrichtung, die an das Inventar der »Alien«-Filme erinnert, mit der Saul durch Zugänge an seinem Körper mit Schläuchen verbunden ist.
Natürlich ging es bei Cronenberg immer auch schon um die Technologie, ihre Artefakte versteht er jedoch stets als Erweiterungen, als Manifestationen unseres Trieblebens. »Crimes of the Future« ist eine einzige verrückt gewordene Wunschmaschine, die einen Alptraumgedanken nach dem anderen hervorbringt. Und doch ist dieser Film, der erste, den Cronenberg seit dem Tod seiner Frau und Filmpartnerin gedreht hat, auf seltsam melancholische Weise bei sich, wie ein Requiem, das von einer letzten großen Erschöpfung des Lebens erzählt. Lieber noch als vom Ende des Lebens hat Cronenberg jedoch immer schon von dessen Metamorphosen erzählt. Anders als in seiner berühmtgewordenen »Fliege« (»The Fly«) von 1987, überwindet das biologische Leben hier nun seine letzte Grenze. In tröstliche Bilder packt Cronenberg das nicht. Die Verbrechen der Zukunft sind Taten, die seine Figuren begehen, weil sie die Bilder einer neuen psychischen Realität in ihren Köpfen nicht aushalten. Werden wir es können? ||
CRIMES OF THE FUTURE
Kanada, Frankreich, Großbritannien, Griechenland 2022 | Regie: David Cronenberg
Mit: Viggo Mortensen, Léa Seydoux, Kristen Stewart, Welket Bungué | 107 Minuten
Kinostart: 10. November
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