Lang erwartet: Tony Kushners »Engel in Amerika« im Residenztheater. Das Warten hat sich gelohnt! Die »großartige Ensemble-Leistung« gibt es am 23. Oktober wieder zu sehen.
Engel in Amerika
Im Spiegel der Krankheit
Acht Schminktische mit Spiegeln reihen sich an der Rückwand, das Publikum sieht die Schauspieler sich für ihre wechselnden Figuren maskieren. Davor ein großes Bett, eine Couch-Garnitur, seitlich Kleiderständer. So beginnt die mit Spannung erwartete Premiere von Tony Kushners großem Gesellschaftsporträt der USA »Engel in Amerika«, das Simon Stone 2015 am Theater Basel inszenierte und das Intendant Andreas Beck nach zwei Corona-Wartejahren als Übernahme endlich im Residenztheater aufführen kann. Die Bühne von Ralph Myers erweist sich im Resi allerdings als Problem: Viele Spielszenen finden in der Mitte rund um das Bett des aidskranken Protagonisten Prior Walter statt. Die sieht man schon von der sechsten Reihe aus nicht mehr, wenn man ein paar größere Köpfe vor sich hat. Man erlebt streckenweise nur Hörspiel, das ist angesichts der tollen Schauspieler sehr bedauerlich.
Der erste bekannte Aids-Tote in New York 1985 war ein Freund von Tony Kushner. Was der danach schrieb, nannte er selbst eine »Gay Fantasia on National Themes«: ein Sozial-Panorama über die Schwulen-Community, Rassismus, Antisemitismus und Kapitalismus in den USA. Die Uraufführung 1991 in San Francisco war ein Sensationserfolg, Kushner galt als »das linke intellektuelle Gewissen der USA«, das Stück erhielt 1993 den Pulitzer-Preis. Die über fünfstündige Baseler Aufführung sieht man nun in München quasi als Vorläufer der Philipp-Stölzl-Inszenierung von »Das Vermächtnis«, Matthew Lopez schrieb damit eine Art Forterzählung. Lopez blieb realistisch, während Kushner Drogen-Halluzinationen, Träume, Visionen und EngelErscheinungen in die sehr reale Welt mischte.
Prior Walter (Nicola Mastroberardino), ein freier Künstler, hat Aids – Kaposi-Sarkome, Läsionen. Der 30-Jährige weiß, dass er sterben wird. Sein Partner Louis (Florian Jahr), ein dauerschwätzender linker Theoretiker, erträgt seinen körperlichen Verfall nicht, er verlässt ihn. Parallel spitzt sich die Ehekrise zwischen dem Juristen Joe (Michael Wächter), einem gläubigen Mormonen, und seiner valiumsüchtigen, von Halluzinationen verfolgten Ehefrau Harper (Pia Händler) zu. Sie hat eine Sehergabe und ahnt, dass er latent schwul ist, er erhofft sich als Gehilfe des mächtigen Anwalts Roy Cohn (Roland Koch) eine Karriere im Justizministerium. Diesen zynischen, absolut skrupellosen Roy Cohn gab es tatsächlich: Er hat Donald Trump großgemacht und starb 1986 vermutlich an Aids, offiziell an Leberkrebs.
Zunehmend wichtiger wird der schwarze Krankenpfleger Belize (Benito Bause), als Betreuer des sterbenden Roy Cohn und als Retter von Prior wird er zum intellektuellen Gegenpart. Joe, der nicht weiß, wie er mit seiner Sexualität umgehen soll, verliebt sich in Louis, der will aber zum geliebten Prior zurück. Harper halluziniert sich in die Antarktis und trennt sich von Joe. Dessen strenge Mormonen-Mutter Hannah (Barbara Horvath) bringt schließlich halbwegs Ordnung ins Beziehungschaos. Aber die »Schwulenseuche« bleibt Symptom einer kranken Gesellschaft.
Der Leidensmann Prior wird in seinem Krankenbett nicht nur von verstorbenen Vorfahren besucht, sondern auch von einem Engel (Myriam Schröder), der durch die Decke bricht und Prior zum Propheten erklärt. Was ihm dann einen Aufenthalt im Himmelbeschert samt einer Radioverhersage des Atom-Unglücks in Tschernobyl. Aber Prior will zurück auf die Erde. Die Bühne ist nun ein versehrter, nackter Raum, am Ende nur noch ein raumloses Gestänge unter Schneefall, in dem gestorben, geliebt, abgewiesen und dennoch gehofft wird. Jeder sucht seine
Identität und persönliche Freiheit. Das alles ist eine großartige Ensemble-Leistung. ||
ENGEL IN AMERIKA
Residenztheater | 23. Okt. | 17 Uhr
Tickets: 089 21851940
Weitere Theaterkritiken finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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