Die allzu reale Dystopie-Studie »Wir könnten genauso gut tot sein« seziert spannend Abschottungssucht und Gruppenwahn.
Wir könnten genauso gut tot sein
Panik der Privilegierten
Wie schön lebt es sich doch in der totalen Sicherheit. Der Wohngemeinschaft, die sich hier in einem kafkaesk-klinischen Hochhaus eingenistet hat, könnte es nicht besser gehen. Keine Störungen durch die Außenwelt, festgelegte Unterhaltungsprogramme und nicht zuletzt eine genaue Prüfung der neuen Bewerber. Schließlich soll doch niemand Sorgen und Nöte mit ins optimierte Leben bringen. Für den Rest sorgt die engagierte Wachfrau Anna (Ioana Iacob).
Doch dann bilden sich auf einmal Risse im sicheren Beton: Ihre Tochter (Pola Geiger) bildet sich ein, den bösen Blick zu haben, und schließt sich im Bad ein. Dann verschwindet auch noch ein Hund. Was aus Annas Sicht eine Bagatelle ist, die sich mit Vernunft schnell lösen ließe, entwickelt sich beim Rest der Bewohner zur handfesten Paranoia. Und so versucht man der »Gefahr« mit Golfschlägern und Misstrauen Herr zu werden. Schließlich könnte jeder das nächste Opfer sein – und bestimmte Leute die Täter.
Mit ihrem Langfilmdebüt »Wir könnten genauso gut tot sein« zeichnet die russischstämmige Regisseurin Natalia Sinelnikova das Panoptikum einer Gesellschaft, das genauso satirisch-überdreht wie wohlbekannt ist. Gefühlte Wahrheiten, alternative Fakten, Safe Space-Sucht, Sicherheitswahn und Gruppenzwang – irgendwie kennt man das in verschiedenen Formen aus der Realität der letzten Jahre. Minutiös zeigt sie auf, wie aus einem ernst zu nehmenden Problem haarsträubende Folgen erwachsen, wenn es nur genug Leute gibt, die den Überblick verlieren. Diese Studie inszeniert sie in einer verstörenden Atmosphäre, die die großen Dystopien von Orwell und Huxley heraufbeschwört. Die ach-so-schlimme Außenwelt wird übrigens in keiner Szene gezeigt. Was hier also ganz grundsätzlich Wahn und was Wahrheit ist, bleibt verschwommen und lässt genügend Platz für eigene Interpretation.
Ein paar weniger geglückte Aspekte hat dieser Film dann allerdings doch. Die Inszenierung wirkt oft hölzern und die Message wird hie und da zu fett unterstrichen. Man hat schon recht schnell verstanden, was hier gespielt wird. Deshalb wäre weniger Betonung oft mehr gewesen. Trotzdem darf man gespannt sein, was in Zukunft noch von Sinelnikova kommen wird. Ihre Fähigkeit, aktuelle Probleme in künstlerisch anspruchsvoller Form zu verarbeiten, ist so stark, dass der Filmgenuss überwiegt. Selbst wenn es mitunter ein ziemlich bitterer ist. ||
WIR KÖNNTEN GENAUSO GUT TOT SEIN
Deutschland, Rumänien 2022 | Regie: Natalia Sinelnikova | Drehbuch: Natalia Sinelnikova, Viktor Gallandi | Mit: Ioana Iacob, Pola Geiger
u.a. | 93 Minuten | Kinostart: 29. September
Website
Weitere Filmkritiken finden Sie in unserer aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Dark Glasses: Der neue Film von Dario Argento
»Licorice Pizza« von Paul Thomas Anderson: Ab heute im Kino
Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush: Interview mit Andreas Dresen
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton