Das Ensemble der/gelbe/klang spielt Zeitgenössisches, gerne auch mit Film. Ein kleiner Blick auf die nächsten Auftritte im Schwere Reiter.
der/gelbe/klang im Schwere Reiter
Neues von heute
Nomen est Omen: »der/gelbe/klang« war einst nicht nur der Titel einer geheimnisumwitterten »Bühnenkomposition« Wassily Kandinskys, sondern wurde der Name des kurz vor der Pandemie im Januar 2020 gegründeten »Ensembles für aktuelle Musik« in München. Hier fand 1911 ein legendäres Konzert mit Kammermusik von Arnold Schönberg statt, die Kandinsky zu einer Reihe immer abstrakter werdender Gemälde inspirierte. Wie passend, dass mitten in der schlimmsten Phase der Pandemie, als nichts unter welchen Bedingungen auch immer öffentlich stattfinden konnte, eine Aufzeichnung von Arnold Schönbergs Melodram »Pierrot Lunaire« mit Salome Kammer stattfand. Sie ist immer noch auf der Website des Ensembles zu erleben. Mittlerweile sind zwei CDs bei NEOS erschienen, das vielfältige, mehrere Konzerte im Schwere Reiter und andere Projekte umfassende Programm wird in einem Team aus vier Mitgliedern erarbeitet, mit Markus Elsner als Manager, dem Klarinettisten Oliver Klenk, Mathias Lachenmayr am Schlagzeug und Armando Merino als Dirigent.
Bewusst nennt sich der/gelbe/klang, 2021 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet, »Ensemble für aktuelle Musik«. So gehört die Interpretation von Schlüsselwerken des 20. Jahrhunderts ebenso zum Selbstverständnis der Musiker wie Uraufführungen. Zentral ist zudem die Entwicklung genreübergreifender Projekte, besonders die Verbindung mit visuellen Elementen, seien es Licht, Performance, Video oder Film. Zudem gibt es eine intensive Zusammenarbeit mit den szenischen Projekten der Bayerischen Theaterakademie August Everding, etwa zuletzt bei der »Dichterliebe« von Christian Jost oder Iris Ter Schiphorts »Die Gänsemagd«. Der Austausch mit Komponisten, Dirigenten und Ensembles ist den Verantwortlichen wichtig, so hatte der/gelbe/klang das »Ensemble Schwerpunkt« aus Hannover zum gemeinsamen Konzert eingeladen und krönte das Programm unter Leitung von Armando Merino mit Vito Žurajs großartigem »Runaround«. Seltsam das Gefühl, unmittelbar hinter dem Kontrafagottspieler zu sitzen, im Rücken Geige und Klarinette. Die anderen drei Duos waren weit weg auf der Tribüne platziert, die vier Blechbläser auf der Bühne. Daher ergab sich ein eigentümlich verschobener Klang. Der wunderbar klar konturierten und ebenso gespielten Musik, die am Ende in Freejazz und schräges Walzeridiom abdriftete, gab es zusätzliche Würze.
Europaweit Aufsehen erregte der/gelbe/klang mit neuer Musik zu Friedrich Wilhelm Murnaus legendärem Stummfilm »Nosferatu«, den es live exakt zur 100-Jahr-Feier der Berliner Uraufführung in der Münchner Muffathalle, wenig später auf Arte und jetzt auch bei den Festspielen in Erl zu erleben gab. Olav Lerviks Musik ist für ein solistisch besetztes Miniorchester von 15 Spielern komponiert, verwendet viele Motive der nur rudimentär überlieferten Originalmusik Hans Erdmanns, wölbt jedoch große, spannungsvolle Bögen über die Szenen. Mal führt die Flöte, mal die Geige, und ein mit dem Bogen gestrichenes Becken erzeugt immer wieder einen gläsern unheimlichen Klang wie von einer singenden Säge. Dann raunen die tiefen Instrumente düster, oder es kommt bei Verfolgungsjagden ein vorwärtsdrängender Groove auf. Am Ende mehren sich Anklänge an Trauermärsche, und die Musik hat nicht nur Mitleid mit dem weiblichen Opfer, deren Liebe den Vampir vergessen lässt, dass Sonnenlicht ihn auslöscht, sondern auch mit Dracula selbst, dessen Liebe nur zerstörerisch sein kann. Drei wunderbar schräge, kurze und mittellange Filme, Zwitter aus Trick- und Realfilm von Charley Bowers und Ladislas Starewitch aus den Jahren 1926 bis 1940 bildeten das zweite Stummfilmkonzert, ein viertes krönt den Reigen im Dezember mit der Neuvertonung von Erich von Stroheims berühmtem Erstling »Blind Husbands« (1919). Wie bei der Premiere der restaurierten Fassung mit der Musik von Andreas Eduardo Frank im Oktober 2021 dirigiert Nacho de Paz.
Im augenzwinkernd »carte jaune«, also »Gelbe Karte« genannten Format lädt der/gelbe/klang jeweils einen Gast ein, mit dem Ensemble ein Konzertprogramm frei zu gestalten. Im Juli war dies der litauische Komponist und Dirigent Vykintas Baltakas. Das enorm stringente Programm ging aus von »Neon Sea«, einem extremen Stück, das stets scharf an einem Tinnitus vorbeischrappte. Was an Werken von Claude Lenners, seiner Landsfrau Justina Repečkaitć und vom Italiener Fausto Romitelli folgte, hätte auch von Baltakas selbst komponiert sein können. Erst das dreiteilige »Cuaderno del ritmo« des Argentiniers Alejandro Viñao für neun Spieler, während vorher Quartette und Quintette dominierten, groovte rhythmisch, ließ Flöte (Tobias Kaiser) und Klarinette (Oliver Klenk) auch Melos zeigen und rundete die 85 pausenlosen, ungemein präzise und spannend musizierten Minuten. Mit dabei vom Kernensemble waren Nina Takai (Geige), Cellistin Katerina Giannitsioti, Sophie Lücke am Kontrabass, Marco Riccelli am Flügel und Schlagzeuger Mathias Lachenmayr. Und Musik des 1960 geborenen Italieners Pierluigi Billone, Schüler von Lachenmann und Sciarrino, aber bisher in München kaum zu hören, ist beim nächsten Porträtkonzert von der/gelbe/klang im Herbst zu erleben. ||
DER/GELBE/KLANG, WINTERSAISON 2022/23
Schwere Reiter | Dachauer Str. 114
25. Sept., 13. Nov., 16. Dez. | 20 Uhr
Tickets: 089 54818181
Weitere Vorberichte zum musikalischen Geschehen in München finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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