Im Gärtnerplatztheater bleibt das Musical »Tootsie« genderkonform witzig. Eine Leistung.
Tootsie
Heißes Sujet
»Quatsch keine Musicals«! In der europäischen Erstaufführung des Musicals »Tootsie« wird weitaus mehr geredet als in Sydney Pollacks Filmklassiker aus dem Jahr 1982 mit Dustin Hoffman in der Rolle eines en travestie im Studio und im Leben seinen Erfolgsdurchbruch erlebenden Schauspielers. Nicht nur eine Frage von Bizeps oder Oberweite bei M, W und D: Über Crossdressing als zündende Jobinitiative können filmische Mittel wie Schnitte und Kameraperspektiven schneller und anders erzählen als die Totale einer Theaterbühne, vor der das Publikum seinen Wahrnehmungsfokus zum Teil selbst bestimmt. Deshalb änderten der Textdichter Robert Horn und der Komponist David Yazbek 2018 einiges am Filmsujet vom Schauspieler, den der Vertrag für eine TV-Serienheldin und das falsche Frausein im echten Leben in allerlei Identitätsprobleme wuchtet. Mit Geschlechterhierarchien, über die in den frühen 1980ern noch von oben herab gelacht und gespöttelt werden konnte, ist heute nicht mehr zu spaßen. Da haben die MeToo-Debatte und andere Diskurse einiges verändert. Roman Hinze, der das 2019 in New York herausgekommene Stück übersetzte, hatte also keinen leichten Job, galt es doch, schlagkräftige Pointen zu bewahren und ihnen trotzdem so viel Substanz zu geben, dass sie als Spiegel der gegenwärtigen Diskurse genügend Ernsthaftigkeit haben, ohne die Komödiantik des Stücks und damit dessen Erfolg zu beschädigen.
Wie die Relevanz des »Tootsie«-Sujets hat sich auch das Gärtnerplatzviertel massiv verändert, findet Regisseur Gil Mehmert. Er sieht zwischen dem Phänomen des genderkorrekten Paradigmenwechsels im Musical und dem Relaunch des Quartiers einen Zusammenhang. Mehmert war Anfang der 1990er einer der ersten Regieabsolventen der Bayerischen Theaterakademie August Everding. Jetzt ist er selbst schon 20 Jahre Professor im Studiengang Musical an der Folkwang-Universität der Künste, inszeniert von Dortmund bis Südkorea in allen Sparten und nimmt den Zeitsprung der in »Tootsie« behandelten Geschlechterdiskurse in München deshalb besonders deutlich wahr. Nur mit Enthusiasmus kommt man der Herausforderung einer sorgfältigen Schärfung gerade dieses Stücks nicht bei.
Mehmerts leichte Regiehand ist geleitet von schwergewichtigen Überlegungen. Musicalspezifisch waren in der Premiere am 7. Juli die blitzschnellen Übergänge zwischen langen Dialogen, Songs und der Choreografie Adam Coopers. Die Ausstattung von Karl Fehringer, Judith Leikauf und Alfred Mayerhofer (Kostüme) verzichtete auf einen mit Glamour kokettierenden Chic, den Musicalproduktionen sonst auch gern bei Schauplätzen in ärmlichen Milieus vorführen. Und erst recht ist der vom Publikum seit Mehmerts Inszenierung von »Priscilla« ins Herz geschlossene »Tootsie«-Protagonist Armin Kahl kein schöner Schwan in Verkleidung als hässliches junges Entlein, eher ein sich um Karrierekopf und -kragen redender Bühnenidealist in der Schale eines Streetworkers. So bringt Mehmert die Libretto-Problemblasen authentisch zum Wachsen und Platzen. Denn jetzt wird es für die Hauptfigur Michael Dorsey/Dorothy Michaels zum noch größeren Dilemma, wie er der zielstrebigen Julie Nichols (Bettina Mönch) nicht nur als Kollegin, sondern auch als Mann näherkommen kann. Musicalspezifisch ist zwar das Ende, wenn die beiden mit viel Vakuum zwischen sich auf einer Parkbank sitzen und der Stücktext keinerlei Andeutungen liefert, ob überhaupt oder wie es mit ihnen weitergehen wird. Den Weg dorthin verdichtet Mehmert mit Detailbesessenheit.
Es verblüfft die Genauigkeit, mit der das Ensemble und die Regie jeden Einwand gegenüber geschlechtlichen und sozialen Denunziationen im vornherein entkräften und die Spielsituationen trotz der beträchtlichen Textmengen handsam bleiben. Nicht so einfach hat es die Musik unter dem als Spezialist für das Genre aufgebauten Dirigenten Andreas Partilla. Während die Dialoge gegen misogyne Stereotypen mobilmachen, tunkt David Yazbeks Komposition in mitunter glatte Gefilde von Show und Song. Da gießen Orchester und Ensemble zu allen Gelegenheiten gerne und reichlich Öl ins performative Feuer. Selbstreferenz ans theatrale Business sollte auch im Musical bestehen bleiben. So gerät Michael Dorsay/DorothyMichaels unter demselben Regisseur (Alexander Franzen), der ihn zu Beginn in seiner wahren geschlechtlichen Identität feuert, als Star in eine Comedy-Fortsetzung von Shakespeares »Romeo und Julia«. Das Stück im Stück »Julias wahre Flamme«, an deren Titelpartie Michael/Dorothy sich virtuos abarbeitet, ist erst an Dümmlichkeit kaum zu überbieten und zur Premiere des Theaters auf dem Theater nicht wiederzuerkennen. Bedeutung erlangen im Musical von 2019 und durch Mehmerts gewissenhafte Psychologisierung erst recht Michaels Mitbewohner Jeff Slater (Gunnar Frietsch) und die beim Casting für die Rolle von Julias Amme gegen den travestierenden Michael abstinkende Sandy Lester. Julia Sturzlbaum liefert einen bravourösen Dauerspagat zwischen Klischee und Charakter. Sie spielt die neurotische Exaltiertheit der Figur nicht groß aus und federt sie damit ab. Als an den ehemals patriarchalen Strippen ziehende Produzentin hatte es Dagmar Hellberg weitaus einfacher.
Bestens gelingen am Gärtnerplatz in »Tootsie« (das Slangwort bedeutet »verfügbares frauliches Freiwild«) wirklich alle für die mitteleuropäische Bühnentopografie relevanten Situationen. Das sind nicht wenige und äußerst gewichtige: Die Umkehr der Stoßrichtung im Hierarchiegefüge echter Theaterbetriebe, die Konfliktdefinition zwischen authentischer und temporärer Geschlechterrolle, die signifikante Darstellung des Bühnenmilieus und schließlich der sich nur durch Gelingen all dieser Sinnkomponenten einstellende musikalische Witz. Unter Lachen und Johlen des Publikums katapultierte man »Tootsie« von einem vormodernen Klassiker mit entschuldigendem Erklärungsapparat zu komödiantischer Bravour. ||
TOOTSIE
Gärtnerplatztheater | 27., 29., 30. Sept. | 19.30 Uhr (So, Fei 18 Uhr) | Tickets: 089 21851960
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