Edgar Reitz‘ Heimat-Trilogie zählt zu den bedeutendsten Werken der deutschen Filmgeschichte. Im September wird die restaurierte Fassung der »Zweiten Heimat« im ASTOR Kino in München uraufgeführt. Ein Besuch.
Edgar Reitz: Die zweite Heimat
Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben
München-Schwabing am Englischen Garten. Zwischen dem denkmalgeschützten Wohnheim am Biederstein und dem Minihofbräuhaus am Schwabinger Bach befinden sich wahre Ruhezonen abseits des Münchner Großstadtdschungels. In einem dieser idyllischen Kraftorte, umrankt von mächtigen Bäumen, lebt die Münchner Autorenfilmerlegende Edgar Reitz gemeinsam mit Salome Kammer seit über 30 Jahren. Der 89-jährige Regisseur des weltbekannten Filmzyklus »Heimat« (Stanley Kubrick: »Wenn Film einmal den Stellenwert von Literatur hat, dann wird die Reitz’sche ›Heimat‹ in einem Atemzug genannt werden mit Shakespeares ›Hamlet‹ und Goethes ›Faust‹«) empfängt mich an einem heißen Julinachmittag zum langen Tischgespräch. Hinter angenehm kühlen Mauern sitzt er mir im dunkelblauen Kurzarmhemd mit gewohnt wachem Geist gegenüber.
Auch wenn es gerade im Rücken zwickt und tags zuvor der Computer abgerauscht ist, sprudeln die Worte, kaum dass man Platz genommen hat. »Vier Jahre haben wir an der digitalen Restaurierung der ›Zweiten Heimat‹ gearbeitet. Am Ende dieses langen Prozesses hat der Film zum ersten Mal die Form gefunden, die mir vor 30 Jahren vorschwebte. Mit den heutigen Techniken konnten wir endlich die Schwarz-Weiß-Sequenzen und ihre Übergänge zu den Farbteilen so gestalten, wie ich mir das ursprünglich vorgestellt hatte. Ich bin außerdem begeistert, was man in der Tonbearbeitung alles machen konnte: Das ist fantastisch. ›Die zweite Heimat‹ ist für mich das Beste, was mir in meinem Leben als Filmemacher gelungen ist.«
Parallel zu seinen aufschlussreichen Memoiren, die im September in Buchform erscheinen, plant Edgar Reitz gerade letzte Details für sein großes Leinwandevent im ASTOR Kino im ARRI. Dort feiert im selben Monat die digital restaurierte Fassung seines Films Weltpremiere. Dementsprechend gespannt ist er, wie diese »Chronik einer Jugend in 13 Filmen«, wie sie im Untertitel heißt, von einem heutigen, vielleicht auch jüngeren Publikum aufgenommen wird. Bis dato in Kanada, Frankreich, USA, Großbritannien, den skandinavischen Ländern sowie in Italien triumphal rezipiert, ist die erneute Beschäftigung mit dieser artistischen Ausnahmeproduktion (Laufzeit: 1515 Minuten) sowie mit ihrer sorgsamen Restaurierung auch für den bald 90-jährigen Unterzeichner des »Oberhausener Manifests« eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit: »Die Premierenkopie der ›Zweiten Heimat‹ im Jahr 1992 war noch von Hand geklebt. Diese 13 Filme bilden zusammen 84 Akte im Kino. Das überschreitet alle Konventionen. Natürlich hat man nach so langer Zeit die Umstände der einzelnen Drehtage vergessen und viele Ängste von einst sind längst verschwunden. Trotzdem kehrt die Frage immer wieder: Wie habe ich das damals gemacht? Der Prozess des Filmemachens entsteht bekanntlich im Team. Um 557 Drehtage durchzustehen, bedurfte es eines wunderbaren hingebungsvollen Teams und fantasievoller Mitstreiter wie zum Beispiel Gernot Roll als Kameramann.«
Das Kameranegativ, das in all den Jahren im Bundesfilmarchiv Koblenz aufbewahrt worden war und für die Restaurierungsarbeit digitalisiert wurde, war trotz der Jahre in einem guten Zustand. Fehlende oder zu stark beschädigte Stellen im Film können mittlerweile mit digitalen Tools ausgebessert oder bei Bedarf sogar neu errechnet werden. »Wenn ich da noch an die Premiere im Münchner Prinzregententheater zurückdenke: Da saß ich wegen der bei Schwarz-Weiß- und Farbteilen unterschiedlichen Schärfe im Publikum mit der Fernbedienung in der Hand, und habe immer wieder den Fokus des Projektors nachgestellt!«
Welchen dramaturgischen Reiz hat diese mit 100 Protagonisten besetzte Künstler- und Abenteuerchronik um das »Hermännche« (Henry Arnold) und seine Muse Clarissa (Salome Kammer), die im rebellischen München der 1960er Jahre ankommen, aus heutiger Sicht? »Das Überraschende für mich ist, dass ich meinen Film nach den Restaurierungsarbeiten mit gänzlich verändertem Blick betrachten kann. Ich habe das seltsame Gefühl, diesen Film noch nie im Leben gesehen zu haben. Ich entdecke, dass die Erzählung oft ganz anders weitergeht als ich es erwartete. Ich war erstaunt über die vielen lebendigen Charaktere, über den Einfallsreichtum und die poetischen Wendungen, die erst in der neuen Fassung wirksam werden.«
Thomas Lassonczyk über den Dokumentarfilm »800 Mal einsam – Ein Tag mit dem Filmemacher Edgar Reitz«
Und im Gespräch blitzt es immer wieder auf: das Reitzsche Reaktionsschema, das einen persönlich wie filmpoetisch sogleich umgarnt und als Filmkritiker ein Leben lang begleitet, weil seine Filme Herz und Hirn zugleich erreichen. Wie bei seiner Antwort auf die Frage, worum es ihm beim Filmemachen ging: »Die Zeit der Jugend auf dem Weg zum Erwachsensein und das Abenteuer der Liebe: Das sind meine liebsten Themen, weil sie so faszinierend und widersprüchlich sind. Ich liebe es, Ambivalenzen darzustellen, denn sie zeigen, dass es dem lebendigen Geist immer wieder gelingt, sie zu überwinden. Die Tiefenschichten der Liebe und die eigenen Ängste zu ergründen, darum ging es mir bereits bei meinem Spielfilmdebüt ›Mahlzeiten‹, genauso wie später bei der ›Zweiten Heimat‹: Das 20. Jahrhundert, das ich in meinen Filmen beschrieb, war ein Jahrhundert der Widersprüche und unvereinbaren Emotionen.«
Was er in bald 90 Jahren über sich, die Welt und die Künste gelernt habe, möchte ich am Ende des Gesprächs noch wissen. »Ich hatte nie ein Motto, außer: Du musst offen bleiben und darfst dich der Welt nicht verschließen! Ein Autor unserer Zeit braucht das Korrektiv durch die Wirklichkeit. Außerdem bin ich gegen jede Art von Fanatismus. Es gibt Regisseure, die sich als Raubtierdompteure verstehen. Ich zähle mich eher zu den Gärtnern, die dabei zusehen wollen, wie etwas wächst.«
Und was da alles in diesem reichen Künstlerleben von Edgar Reitz wie von seinem filmischen Alter-Ego Hermann (zusammen-) gewachsen ist, lässt sich im ARRI-Kino von Neuem erleben: »Da wird jeder einzelne Zuschauer wieder seinen eigenen Film sehen: Das ist das eigentliche Wunder des Kinos. Der Maßstab für Qualität im Film ist seine Erlebnistiefe und Vieldeutigkeit. Denn wenn es einem Kunstwerk gelingt, gelebtes Leben festzuhalten und es damit zum kulturellen Bestand zu machen, dann hat es eine Kraft, die mit nichts zu vergleichen ist. Ich lebe in meinen Filmen, so wie der Mensch in allem, was er macht, weiterlebt: Die Welt ist nicht nur Natur, sondern im Guten und Bösen das Werk der Menschen. Du gehst nach draußen und siehst nichts, was der Mensch nicht gemacht oder verändert hat: Selbst der Englische Garten ist von Menschen geschaffen worden.« ||
Die Erstaufführung der restaurierten Fassung von »Die zweite Heimat« ist ab 17. September im ASTOR Kino im ARRI an mehreren Tagen zu sehen. Am 18. September stellt Edgar Reitz zudem seine Memoiren »Filmzeit, Lebenszeit« ebenfalls im ASTOR Kino vor. | Weitere Infos
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