Meisterhaft verstörend: Isabelle Stever taucht mit »Grand Jeté« tief ins Dunkel und zerrt ein schockierendes Tabu ans Licht.

Grand Jeté

Mutterliebe

Grand Jete

Wahrhaft verstörend: Sarah Nevada und Emil von Schönfels in »Grand Jeté« | © 2022 Brave New Work

Man sieht förmlich die Schmerzen, die sich unter der Haut eingenistet haben. Noch bevor die Kamera das Gesicht von Nadja (Sarah Nevada Grether) einfängt, schleicht sie sich ganz nah von hinten an. Die Verrenkungen der ehemaligen Tänzerin und jetzigen Ballettlehrerin, ihre blutigen Zehen und Ekzeme zeugen von einem Körper, der langsam zerbricht. Der Stolz ist hingegen noch stabil wie eh und je, den verschriebenen Gehstock will sie nicht annehmen. Lieber sollen stärkere Tabletten her. Nadja ist eine Frau, die ihren Körper der Kunst geopfert hat.

Schon in den ersten Minuten von Isabelle Stever grandiosem »Grand Jeté« glaubt man, einen Fahrstuhl betreten zu haben, der nur abwärts fahren kann. Haut, Schmerz, Tristesse in Nahaufnahme. Im Gegensatz zur effektverliebten Schaulust eines »Black Swan« (Darren Aronofsky) ist es hier die Trostlosigkeit, die ein ständiges Unwohlsein erzeugt. Die experimentelle, fast schon voyeuristische Kameraarbeit von Constantin Campean ist eines der Highlights des meisterhaften Films. Doch um Ballett geht es in diesem Film nur am Rande. Nadja opferte schließlich nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr eigen Fleisch und Blut. Als Jugendliche gab sie ihren Sohn Mario (Emil von Schönfels) an die eigene Mutter ab, um sich der Karriere als Tänzerin widmen zu können. Wenn sie jetzt gemeinsam bei Tisch sitzen, macht es den Anschein, zwei völlig Fremde säßen sich gegenüber. Trotzdem nimmt Mario sie mit in den Club. Und schnell denkt man sich: So tanzen Mutter und Sohn nicht. Auch wenn sie miteinander reden, entsteht eher der Eindruck, hier treffen nur Körper aufeinander und keine Persönlichkeiten, die eine Verbindung zueinander haben. Doch plötzlich entsteht eine solche. Aber eine körperliche, die zwischen Mutter und Sohn nicht entstehen sollte.

»Grand Jeté« ist ein wahrhaft verstörendes Werk. Nicht nur, weil er explizit Inzest zeigt, sondern dieser so selbstverständlich aus der Luft gegriffen ist, dass man nicht mehr weiß, wie man reagieren soll. Das Dunkel der Wollust, das sich dabei auftut, erinnert an die Schriften George Batailles, in denen er immer wieder die finstere, destruktive Kraft der Erotik betont. Andere Szenen könnten in ihrer bizarren Fremdartigkeit auch den Köpfen von David Lynch oder Philippe Grandrieux entsprungen sein.

Dass »Grand Jeté« dabei so schwer zu fassen ist, liegt nicht nur an der kontroversen Thematik, sondern auch am fehlenden Motiv der Liaison. Die Figuren sind nicht zugänglich, ihr Handeln unlogisch. Die Geschichte zeigt keinerlei Verwurzelung in gesellschaftlichen Diskussionen über Tabus und Freiheiten. Alles ist getrieben von einer finster-sinnlichen Macht, die jenseits von Gut und Böse waltet. Genau das ist es jedoch, was den Film zu einem emotionalen Erlebnis werden lässt, das sich einfachen Kategorien entzieht. Und diese Kompromisslosigkeit, gepaart mit höchstem Sinn für Ästhetik, macht aus »Grand Jeté« einen der besten und intensivsten deutschen Filme dieses Jahres. Sicher kein leichter Kinobesuch. Doch einer, den man nicht so schnell vergessen wird. ||

GRAND JETÉ
Deutschland 2022 | Regie: Isabelle Stever
Drehbuch: Anna Melikova | Mit: Sarah Nevada Grether, Emil von Schönfels u.a. | 100 Minuten
Kinostart: 11. August
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