Die Tolstoi-Bibliothek zieht um. Und doch bleibt alles, wie es ist. Wir haben geschaut, was diese besondere Institution ausmacht.
Tolstoi-Bibliothek
Ein Stück Heimat im Exil
Der Flügel steht an seinem Platz, die dunkel gebeizten Regale sind angepasst. Das Café ist bereits eingerichtet. Und ja, auch die beigen Ledersitzgarnituren verbreiten wie je jene Gemütlichkeit, wie man sie in einem Literatursalon genießen möchte. Die Leute fühlten sich wohl an diesem scheinbar aus der Zeit gefallenen Ort, sagt Tatjana Erschow, längst zur Geschäftsführerin dieses höchst lebendigen Anachronismus aufgestiegen, wo sie 1986 mit einem Studentenjob angefangen hatte.
Als Kind war sie, die in München geborene Tochter russischer Emigranten, schon einmal in der Tolstoi-Bibliothek bei einer Weihnachtsfeier gewesen. Wahrscheinlich wird, weil solche Erinnerungen prägen, alles so bleiben, wie es schon immer war, wo auch immer Tolstoi-Bibliothek an der Tür steht. Stünden an diesem Julitag in einer nicht ganz fertig eingerichteten Altbauwohnung aktuell nicht noch volle Bücherkisten herum, käme niemand auf die Idee, dass dies nun ein anderer, ein neuer, ja wahrscheinlich sogar ein besserer Ort ist als der, den man kennt, der diese einzigartige Institution in Deutschland künftig beherbergt. Es ist eine Einrichtung, gegründet von einer Emigrantin in den USA, von Alexandra Tolstoy, der jüngsten Tochter des Schriftstellers Leo Tolstoi. Sie setzte die sozialen Ideale des Vaters mittels einer Bibliothek um und schuf russischsprachigen Emigranten jedweder Herkunft einen Ort praktizierter Lebenshilfe.
1949 wurde die Tolstoi-Bibliothek in München gegründet und 1992 durch das Tolstoi Hilfs- und Kulturwerk e.V. erweitert. Jetzt musste sie spätestens zum 30. Juni ihren Sitz in der Thierschstraße 11 verlassen. Denn dieses Haus, das einst den »Völkischen Beobachter« beherbergte und von 1972 an 50 Jahre lang die Tolstoi-Bibliothek, wurde gekauft vom Biotechnologieunternehmen Biontec und wird nun für teure Mietwohnungen luxussaniert. Wo aber einen Platz finden für diese nicht nur für München einzigartige Oase für »ältere Leute, die noch das Medium Buch kennen«, wie Erschows Kollegin, die Verwaltungsleiterin der Tolstoi-Bibliothek Key Kirstin Moeller, mit leiser Ironie ihren Arbeitsplatz beschreibt. Moeller, anders als Erschow eine Novizin, die erst im vergangenen Dezember die reine Frauenbelegschaft stärkte, wacht unter anderem darüber, dass die 50000 Bücher den Umzug gut überstehen. Besucher finden hier Bücher russischer Autoren sowie russischer Exilautoren. Und es gibt eine ganze Abteilung internationaler Weltliteratur in russischer Übersetzung. Unzugänglich fürs Publikum bleiben einzig die Regale mit wertvollen antiquarischen Buchausgaben.
Die Besucher der Tolstoi-Bibliothek sind russischsprachige Menschen, die beileibe nicht alle Russen sind. Sie können hier zu kleinen Preisen Mitglieder werden, Bücher ausleihen und zum Beispiel jeden zweiten Dienstagabend bei freiem Eintritt vom Literaturclub veranstaltete Lesungen, Vorträge und Gespräche besuchen. Und das ist noch nicht alles. Denn sie erhalten hier eben auch Lebenshilfe im Alltag.
Dass sich nach wochenlangem Suchen unter steigendem Zeitdruck eine neue Bleibe fand, ist einem glücklichen Zufall zu verdanken. Es ist ein nobles Quartier, genauso groß wie das alte, im ersten Stock einer diskret renovierten Gründerzeitvilla samt altem Baumbestand im Hinterhof. Der Vermieter dieser herrschaftlichen Altbauwohnung hatte sein Angebot zwar einem Makler übergeben, aber nicht auf den Markt gebracht. Denn er wollte Mieter, die ins Haus passen, wo im Erdgeschoss bereits die Max-Planck-Förderstiftung residiert. Tatjana Erschow hatte vom glücksbringenden Leerstand erfahren und bekam den Zuschlag. Vom Lehel nach Neuhausen, von der Thierschstraße 11 in die Aldringenstraße 4: Die alt-neue Tolstoi-Bibliothek ist gleich ums Eck vom Rotkreuzplatz und damit sogar bestens mit der U-Bahn erreichbar.
Wohl um wenig lauteren Mutmaßungen vorzubeugen, stellt Erschow ungefragt klar: »Von russischen Oligarchen habe ich nie Geld genommen, obgleich mein Leben damit wesentlich leichter gewesen wäre«, sagt sie. Ebenso wenig nahm sie Geld von der russischen Regierung. Finanzielle Unterstützung erhält die Tolstoi-Bibliothek aus allzeit nachprüfbaren, offiziellen Quellen. Der Löwenanteil kommt vom Bund, kleinere Summen erhält sie vom Freistaat und der Stadt München. Hinzu kommen die notwendigen Spenden. Summen und Zahlen mag Tatjana Erschow, die sich gern fein zurückhält, lieber nicht nennen. Mit politischen Äußerungen hält sie sich zurück, betont aber wieder und wieder, dass die Bibliothek offen sei für jede(n), die oder der russisch spreche, egal welcher Nationalität, Konfession und Hautfarbe. Die Einrichtung ist nicht
parteigebunden und verfolgt keine politischen Ziele. Erschowbeschreibt diese als Vermittlerin zwischen den Kulturen, die es russischen Zuwanderern ermöglicht, ihre ursprüngliche Kultur zu bewahren und eine Brücke zu schlagen zur Kultur ihrer Wahlheimat.
Dabei wird die Tolstoi-Bibliothek unweigerlich selbst zum Politikum. Denn politische Krisen machen Menschen zu Flüchtlingen, zu Emigranten und bestimmen deren Verhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es russische Flüchtlinge und Displaced Persons. Tatjana Erschow erzählt, dass die Emigranten in Zeiten des Kalten Krieges gern unter sich blieben. Erst mit dem Fall des Eisernen Vorhangs öffnete sich die Tolstoi-Bibliothek nach außen – Krisenbewältigung inklusive. Sie denkt da an den Kaukasuskrieg und seine Folgen 2008. Und natürlich an die große Einwanderungswelle vormals sowjetischer Juden in den Neunzigerjahren nach 1989. 50 Prozent der jüdischen Einwanderer »sind bei uns aufgeschlagen«, sagt sie, wohl wissend, dass sie da ein sensibles Thema anspricht. Zu den Kooperationspartnern des Tolstoi Hilfs- und Kulturwerks gehört zwar das Erzbischöfliche Ordinariat, nicht aber, was nahe läge, die Israelitische Kultusgemeinde München. Wohl weil letztere sich auch dank ihrer eigenen Sozialabteilung zuständig für ausnahmslos alle jüdischen Einwanderer hält und ihre eigenen finanziellen Interessen verfolgt.
Aktuell kommen Hilfesuchende hauptsächlich aus der Ukraine. Manche verließen ihre Heimat nur temporär, gingen nach wenigen Wochen wieder zurück, so Tatjana Erschow. Und sie wiederholt das Credo ihrer Institution: Von Emigranten gegründet, von Emigranten betrieben, für jeden offen. ||
TOLSTOI BIBLIOTHEK
Tolstoi Hilfs- und Kulturwerk e.V. | Aldringenstr. 4 | geöffnet
Dienstag und Donnerstag 13–19 Uhr, Freitag 13–18.30 Uhr
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