Jacob Collier spielt und singt am liebsten alles selbst. Auf der Bühne aber lässt er sich doch helfen.
Jacob Collier
Der Wunderknabe
Als schlaksiger Nerd auf Welttournee mit 100 Stationen auf allen Kontinenten: ganz schön viel Aufmerksamkeit für einen Nordlondoner, der mit 27 noch im Reihenhaus seiner Mutter lebt. In dessen Spielzimmer, vollgestopft mit allen erdenklichen Instrumenten, ist nahezu seine gesamte Musik entstanden. Er hat sie am Computer zusammengebastelt, denn Jacob Collier ist ein Einzelkämpfer, der mit wunderkindhaften Fähigkeiten als Multiinstrumentalist und mit ungebremster Lust an vielstimmigem Gesang Track auf Track türmt, bis das harmonisch und rhythmisch oft hyperkomplexe Resultat seinen Visionen entspricht. Jacob hat seine alle Genres mischenden Bastelarbeiten – »I like an iPod on shuffle« – ab 2012 ins Netz gestellt, und die Resonanz übertraf alle Erwartungen. Weltweit, weswegen er nun tourtaugliche Fan-Crowds auch in Lima oder auf den Philippinen hat.
So richtig irre wurde besagte Resonanz, als sich gleich mehrere Jazzgiganten bei ihm meldeten, unter anderem Herbie Hancock und vor allem die Produzentenlegende Quincy Jones. Wer auch immer Quincy treffen wollte, bekam eine Zeit lang ein Splitscreen-Video mit aktuell über fünfeinhalb Millionen Aufrufen verordnet, für das Jacob Stevie Wonders »Don’t You Worry About A Thing« a cappella mit so viel Raffinesse arrangiert hatte, dass Manhattan Transfer dagegen blass wirken. Vor allem Colliers Umgang mit abenteuerlich erweiterten Akkorden beeindruckte die Jazzmusiker. Solche Zuspitzungen des Harmonischen, bei denen Jacob gerne auch mit Mikrotonalität bis zum Rande der Dissonanz arbeitet, sind ebenso frech wie unkonventionell. Ob es im Einzelfall Selbstzweck ist, dass sich der Song quasi ständig selber zuzwinkert, oder tatsächlich dem musikalischen Ausdruck dient, darüber lässt sich streiten. Andererseits wirken Colliers Experimente so selbstverständlich locker, dass er Fans mit jazzaffin Ambitioniertem gewinnt, bei dem das so gar nicht zu erwarten gewesen wäre.
Erstaunlich, was selbst eher dem Mainstream zugeneigte Youngster da im Konzert bejubeln oder gar mitsingen, als wär’s ein Song von Coldplay. Apropos Konzert und mitsingen: Zunächst stellte sich natürlich die Frage, wie der junge Meister des Multitrackings seine Ideen als One-Man-Show auf die Bühne bringen sollte. Von Instrument zu Instrument springen, mit Loops arbeiten, warum nicht. Aber der vielstimmige Gesang? Mit Ben Bloomberg vom MIT Media Lab entwickelte der »singende Harry Potter« (Ueli Bernays in der »NZZ«) daher ein Tasteninstrument, das jeden gedrückten Akkord zum gesungenen Chor werden lässt. Dieser Vocal Harmonizer funktioniert erstaunlich gut. Die Sache hat aber auf Dauer auch etwas leicht Autistisches, wie Colliers Musikerdasein generell ein ziemlich einsames ist. »The one-man band fantasy is not a healthy one«, kommentierte ein Blogger. Zum Glück fand auch der fünffache Grammygewinner, der bei Workshops oder mit seinem Konzertpublikum stets lustvoll-kompetent Kontakt aufzubauen wusste, er solle die nächste Tour besser mit Band bestreiten. So kommt denn in die Muffathalle ein Sextett, bei dem jeder Instrumentalist (sieben Keyboards, zwei Drumsets, fünf Gitarren nicht zuletzt für Collier’sche Verwendung) auch schwierige Gesangsstimmen übernehmen kann.
Zum Repertoire gehören neben Songs von seinem Debüt »In My Room« (2016) auch viele aus den bisher drei Veröffentlichungen seines groß angelegten »Djesse«-Projekts. Vor allem beim aktuellen »Vol. 3« waren zahllose Gastsänger:innen mit an Bord, die nicht mit auf Tour sein können. Was also tun, wenn zum Beispiel die erste Single-Auskopplung auf die Gitarre von John Mayer baut und die Zweitstimme von Lizzy McAlpine? Jacob geht so etwas selbstbewusst an. On stage gibt es nur Mr. Collier, sich etwa mit der Akustischen oder am Flügel begleitend. Derartige Kontraste zur sinnesverwirrenden Achterbahnfahrt kann das Konzert gut gebrauchen, und so wird sich die Band wohl auch in München gegen Ende von in der Regel mindestens zwei Stunden am Bühnenrand versammeln, um in Lagerfeuermanier einen Song wie »Blackbird« zum Besten zu geben. Den hat Jacob bei seinen Soloshows auf – Djeeseschrist! – deutlich über 20 Minuten gestreckt nach dem Motto: Irgendeine Modulation, verrückte Akkorderweiterung oder Rhythmusverschiebung geht immer noch. Nun also die »wiser version«, obligatorisch in ein großes Chorfinale mündend. Was ein McFerrin auf diesem Gebiet erreicht, wird dabei locker übertroffen, obwohl auch Bobby viele Musiker im Publikum zu haben pflegt. Also, liebe Münchner, überlasst eure Lust am Singen einem, der euch als Instrument benutzen kann wie niemand sonst. Ihr werdet staunen, versprochen! ||
JACOB COLLIER
Muffathalle | Zellstr. 4 | 11. Juli | 20 Uhr
Tickets: 089 54818181
Weitere Vorberichte zu Konzerten in München gbt es in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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