Die 59. Biennale in Venedig feiert den Surrealismus. Nichts scheint passender in diesen Tagen, die jede vermeintliche Sicherheit als Farce entlarven.
Biennale in Venedig
Milch der Träume
Nach dem letzten Biennale-Motto 2019 »May you live in interesting times«, das sich drei Monate nach dem Ende der Mammutschau als fast schon zynische Prophetie entpuppte, mutet die Überschrift der diesjährigen wie ein Schaumbad an: »Die Milch der Träume« schaukelt typographisch über Plakate durch ganz Venedig. Cecilia Alemani, Kuratorin der 59. Kunst-Biennale (bekannt als Kuratorin des Kunstprogramms der High Line in New York und durch ihre »Il Mondo Magico«-Ausstellung im italienischen Pavillon 2017), zitiert mit ihrem Motto einen Buchtitel der britisch-mexikanischen Surrealistin Leonora Carrington (1917–2011). Die schillernde Malerin, Bildhauerin und Schriftstellerin wuchs in reichem Hause auf, studierte Kunst in Paris, lebte mit Max Ernst zusammen, begegnete über ihn den Surrealisten sowie Peggy Guggenheim, heiratete den mexikanischen Dichter und Diplomaten Renato Leduc und später den Fotografen und Kollegen von Robert Capa, Emérico »Chiki« Weisz. Die Beziehungen mit diesen Männern hatten Einfluss auf ihren Stil eines mystischen Surrealismus. Ihre Darstellung von Träumen, Fantasien, Geistern, Schreckgestalten und magischen Landschaften sind zum Teil in der mexikanischen Kultur verwurzelt. In »The Milk of Dreams« beschreibt sie eine Welt, in der das Leben durch ein »Prisma der Vorstellungskraft« immer wieder neu erfunden wird.
Die Realität mit Fantasie kontern
Alles, was Leonora Carrington ausmacht, beschreibt auch die 59. Biennale, ohne dass man dem viel hinzufügen müsste. Kuratorin Alemani hat den Geist der Stunde früh erkannt und setzt ihn konsequent um: Was soll man mit einer Realität anfangen, die so finster ist, dass man ihr nur kraft der Fantasie begegnen kann? Nach zwei pandemischen Klausur-Jahren und jetzt der Kriegskatastrophe in Europa bricht sich der Eskapismus Bahn. Kunst als alternatives Themenangebot zur Überfülle der politischen Nachrichten? Dies findet auf der Biennale wohldosiert statt und funktioniert besonders gut in den Länderpavillons in den Giardini: In den spanischen Pavillon hat Ignasi Aballí einen Ort hineingebaut, der weiß und leer ist und auf luftige, puristische Weise Winkel, Durchgänge, Perspektiven schafft – fast wie die heitere Variante des Jüdischen Museums von Daniel Libeskind in Berlin; man zwängt sich durch schmale Korridore, landet in spitzwinkligen, hohen, hellen Räumen, in denen man sich gern aufhält. Ein schöner Einstieg, gleich am Eingang des Geländes.
Bewegt man sich zum belgischen Pavillon nebenan, den Francis Alÿs bespielt, fragt man sich, warum die Leute, die einem entgegenkommen, so strahlen. Das klärt sich schnell auf: In zwei Räumen links und rechts der Pforte hängen kleine Zeichnungen und Aquarelle, die Menschen auf der Flucht zeigen, kreuz und quer auf der Welt. Darstellungen wie aus einem Bilderbuch, die ihre Dramatik erst entfalten, wenn man sie genauer betrachtet. In den drei Räumen danach laufen auf großformatigen Screens Videos von spielenden Kindern, in Äthiopien, Afghanistan, im Kongo und in Hongkong, in der Schweiz, Belgien und vielen anderen Ländern der Welt. Länder, in denen Kinder in Armut, Hunger, Krieg oder anderen problematischen Situationen aufwachsen – und dennoch selbstvergessen spielen und im Spiel die Welt neu erfinden, allein oder gemeinsam. Das Glück im Spiel steckt den Betrachter an. Der Kontrast zwischen der Malerei und den Videos könnte nicht größer sein.
Frauen, Frauen, Frauen
Im Zentralpavillon stehen die Frauen im Mittelpunkt, als Künstlerinnen ebenso wie als Sujet. Der Elefant im Raum ist hier kein latent vorhandener, aber unausgesprochener Gedanke, sondern ein riesiger, sehr konkreter Fakt: Katharina Fritsch, ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk, stellt den Elefanten mitten in den Raum, durch Spiegelungen vervielfacht, damit ihn auch ja niemand ignorieren wird. Zudem führen Elefantinnen bekanntlich ihre Herden an. Und dann kommen gleich Rosemarie Trockels Strickbilder, Nan Goldins Fotos, Alexandra Pirincis Perfomance »Re-collection« und viele viele andere Frauen (deren Anteil auf dieser Biennale Alemani zufolge 80 Prozent beträgt). Eine detailreiche Kabinettausstellung ist »The Witch’s Cradle«, der »Hexe an der Wiege« gewidmet und bietet den Surrealistinnen des 20. Jahrhunderts großzügig Fläche, »Corps Orbite« ruft Künstlerinnen der 60er und 70er Jahre in Erinnerung, und in den ArsenaleHallen geht es mit dem Ausstellungskapitel »Seduction of the Cyborg« in der Gegenwart weiter.
Vielen Frauen begegnet man auch im polnischen Pavillon, wo Malgorzata Mirga-Tas auf wandfüllenden Patchwork-Tapisserien Szenen aus der Welt der Roma darstellt. In beeindruckend liebevoller, unfassbar detailreicher Handarbeit aus Borten, Tischtüchern, Glitzerstoffen, Leinen und vielen anderen Materialien entstehen plastische Bilder von Frauen bei der Hausarbeit, Frauen beim Kartenspiel, im Garten. Die Männer tauchen nur als Randfiguren auf. Ausgezeichnet wurden dieses Jahr zwei weibliche »Black Art«-Positionen: die afro-karibische Britin Sonia Boyce mit dem Goldenen Löwen für den Britischen Pavillon und die Afroamerikanerin Simone Leigh als beste Künstlerin der Hauptausstellung.
Und dann steht man im deutschen Pavillon, der diesmal von Maria Eichhorn bespielt wird. Sie legt den Bau frei, hat den Marmorboden aufgestemmt wie ein Forschungsfeld und den Putz von der Wand geschlagen. Der ursprünglich Bayerische Pavillon ist mit seiner Geschichte, an der bis heute die NS-Zeit klebt, seit Jahrzehnten umstritten und für jeden Künstler immer wieder eine Herausforderung. Maria Eichhorn, kuratiert von Yilmaz Dziewor, demaskiert den Ort mit erstaunlicher Leichtigkeit. Der brachiale Eingriff in die Bausubstanz kommt erstaunlich leise und elegant daher, die Wände sind stellenweise so bis aufs Mauerwerk entkleidet, dass es nach Neugier und nicht nach Zerstörung aussieht, und wenn man ganz genau hinsieht, entdeckt man unter der Tünche und weiß auf Weiß Schriften, die die Struktur des Gebäudes beschreiben, oder Abklebungen, wie Archäologen sie verwenden. Yilmaz Dziewior, seit 2015 Direktor des Museum Ludwig in Köln, hat die 1962 in Bamberg geborene und in Berlin lebende Künstlerin ausgewählt, weil sie für ihre konzeptuelle Vorgehensweise ebenso bekannt ist wie für ihren Humor. Den deutschen Pavillon hat sie ohne plakative Allüre bearbeitet, dafür mit kühler Sachlichkeit, aus der man sogar das für sie typische feinsinnige Augenzwinkern herauslesen möchte.
Der Brunnen der Erschöpfung
Mit Spannung erwartet wurde der ukrainische Beitrag. Im Arsenale-Komplex ist Pavlo Makovs Installation »Fountain of Exhaustion. Acqua Alta« zu sehen: eine 3,50 Meter hohe pyramidale Anordnung aus 12 Trichter-Reihen, durch die von oben nach unten Wasser läuft, einerseits Sinnbild für das Wasser, das sich seine Wege unaufhaltsam sucht, zum andern eine Widmung an das auf Wasser gebaute und nicht nur von Wetter und Gezeiten, sondern auch vom Klimawandel bedrohte Venedig. Das Konzept für »Fountain of Exhaustion« ist 27 Jahre alt.
Mehrfach versuchte Markov vergeblich, die Installation im Stadtraum von Charkiv zu realisieren. Nun ist sie in Venedig zu sehen. Makov, 1958 in St. Petersburg geboren, gilt vor allem wegen seiner graphischen Arbeiten als einer der wichtigsten zeitgenössischen ukrainischen Künstler. Die Anordnung symbolisiert die Erschöpfung auf vielen Ebenen, neben der offensichtlichen, die die Umwelt betrifft, auch die aktuelle psychologische Auszehrung. Für die Ukraine war es den Kuratoren Maria Lanko, Lizaveta Herman und Borys Filonenko besonders wichtig, bei der 59. Biennale Präsenz zu zeigen, auch in den Giardini. Der leere russische Pavillon wird dagegen von der italienischen Polizei bewacht.
Ein duftender Acker, viele Fragwürdigkeiten
Während in den Giardini ein heiterer Zauber vorherrscht, hervorgerufen durch das hohe Niveau der Künstler ebenso wie durch die Besucher, die sich jauchzend endlich wieder in den Armen liegen, irritieren viele der Positionen im Arsenale: Auch hier gibt es massenhaft Referenzen an den Surrealismus, auch hier ist die 59. Biennale eine Biennale der Frauen. Allerdings überzeugen die Exponate nicht durchgehend. Vielmehr erinnern sie an die Ergebnisse fortgeschrittener Do-it-yourself-Workshops. Malen auf Seide, Malen nach Dalí, Papierblumen aus Papier, Skulpturen als Pflanzgefäße. Manchmal ist das unfreiwillig komisch und macht nachdenklich. Nach welchen Kriterien wurden ausgewählt, was zu sehen ist? Ein Highlight in den Werfthallen ist jedoch zweifellos Delcy Morelos riesige Erd-Installation. Etwa 1,50 Meter hoch ist der abgezirkelte Acker, den die kolumbianische Künstlerin aufgeschüttet hat. Sie hat Erden aus ihrer Heimat verwendet und sie mit gemahlenem Kakao, Kaffee, verschiedenen Gewürzen wie Zimt oder Mohn vermischt. Während man um die Installation herumgeht und alle paar Schritte an der Erde schnuppert, öffnet sich eine olfaktorische Wundertüte. Morelos bezieht sich auf indigene Überzeugungen, nach denen der Mensch ein erdhaftes Wesen ist, das nach seinem Tod wieder zu Humus wird, was wiederum an das lateinische Wort »Homo« erinnert. Wie der Acker in ein paar Monaten duftet und ob auf ihm ein Garten wachsen wird, kann im Moment niemand vorhersagen.
Alles fließt
Venedig als Gastgeberin hat einen eigenen Pavillon in den Giardini. Hier stehen Glasobjekte, hinter weißer Gaze sitzt eine weißgekleidete Frau auf einem weißen Bett in einem weißen Zimmer, unter einem Lorbeerbaum (Paolo Fantin und Ophicina). Ein Geist? Die berühmte Frau in Weiß? Der Schriftzug an der Wand ist eine prototypisch venezianische Erkenntnis, die sich nicht nur auf die Biennale, sondern auf den Gesamtzustand der Welt übersetzen lässt: »Tutto muta, nulla muore, tutto scorre, e ogni immagine si forma nel movimento // Everything changes, nothing dies, everything flows, and every image is formed in movement«. ||
59. INTERNATIONALE KUNSTAUSSTELLUNG
LA BIENNALE DI VENEZIA
bis 27. November | www.biennaledivenezia.it
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