Intensive zeitgenössische Choreografien vereint »Passagen«, der neue Dreiteiler des Bayerischen Staatsballetts.
»Passagen« am Bayerischen Staatsballett
Herzen, Bilder, Knochen
Eine Zeitlang gingen Ganzkörpertrikots gar nicht, assoziierte man sie doch mit der angestaubten Avantgarde aus den 1960er und -70er Jahren. Inzwischen sind wir allerdings – zumindest was die Kostüme anlangt – längst beim anything goes angelangt. Die Männer unter den 13 Tänzerinnen und Tänzern in David Dawsons »Affairs of the Heart«, benannt nach dem gleichnamigen melancholisch timbrierten Streichkonzert von Marjan Mozetich, jedenfalls tragen Ganztrikots, die Frauen zeigen sogar nacktes Bein. Beides macht jede Sehne, jeden Muskel ihrer perfekt modellierten Körper sichtbar und abstrahiert das Bühnengeschehen dergestalt skulptural. Was sie zu tanzen haben, ist – ein unerwartetes Kunststück – herzzerreißend emotional aufgeladen.
Diese »Herzensangelegenheiten« jedenfalls eröffnen den jüngsten Dreiteiler des Bayerischen Staatsballetts. Letzterer birgt, beziehungsvoll »Passagen« übertitelt, immerhin die Hoffnung, dass auch die aktuelle Erschütterung der Welt durch einen Krieg nur vorübergehend sei. Die »Affairs of the Heart« jedenfalls erzählen, was allerdings keineswegs politisch zu verstehen ist, schmerzlich von temporären, von flüchtigen Begegnungen und Lieben, von Passagen, die mit Wehmut und Verlust einhergehen, wie sie wahrscheinlich jede(r) schon einmal erlebt und durchlitten hat. Dawson, beste englische Schule und Anfang der 2000er Jahre an William Forsythes dekonstruktivistischem Blick auf die Neoklassik geschult, setzt wieder zusammen, was man schon zerstückelt erlebt hat. Das tut er um der sublimen Gefühle und ihrer Flüchtigkeit willen: Es ist ein ununterbrochenes Eilen über die Bühnenbreite, ein wogendes Heben und Niederlassen gereckter Körper, die im Auf und Ab senkrechter, hoher Hebungen das Erblühen und Vergehen menschlicher Beziehungen veranschaulichen.
Dawsons Herzensangelegenheiten atmen, getanzt mit überirdischer Delikatesse, in jeder Bewegung den wehen Unterton von Vergänglichkeit. Sie sind, nimmt man Marco Goeckes nachtschwarzen Schlussakkord dieses Ballettabends hinzu, die Brücke zur »Sweet Bones’ Melody«, dem süßen Geklöppel von Gebeinen, über das er schwarze Asche regnen lässt. Die elf Tänzerinnen und Tänzer sind nur als dunkle Schemen sichtbar, krampfig-katatone Gestalten, wie man sie von Goecke gut kennt, aber in ihrer Schattenhaftigkeit diesmal tödlich entrückt. Was aus dem Orchestergraben mit trügerischen Glockenspiel-Tönen beginnt und sich in disparaten Klangschüben einander gleichsam bekriegender Instrumentengruppen entlädt, ist »Mannequin«, das kakophone Gemetzel der koreanischen Ligeti-Schülerin Unsuk Chin. Dirigent Tom Seligman bringt es mit dem Bayerischen Staatsorchester in unerbittlicher Brutalität zu Gehör.
Eine weiße Friedenstaube in den Händen einer Tänzerin darf nicht fliegen. Diese Welt, sie hat keine Arche mehr, die das Überleben jedweder Kreatur rettet. Am Schluss lässt Goecke Else Lasker-Schülers Gedicht »Weltende«, geschrieben 1903, also vor den beiden Weltkriegen, aus dem Off sprechen:
Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
lastet grabesschwer.
Komm, wir wollen uns näher verbergen…
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.
Du! wir wollen uns tief küssen –
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen.
Zwischen Dawson und Goecke, den beiden Uraufführungen des Abends, gingen die »Bilder einer Ausstellung« in der Einstudierung ihres Choreografen Alexei Ratmansky über die Bühne. Der Star-Choreograf, vor allem berühmt für seine zeitgemäßen Klassiker-Überarbeitungen, hatte sich 2014 zusammen mit dem New York City Ballet Modest Mussorgskis alles andere als griffigen Klavierzyklus vorgenommen. Fünf Paare in farbig gebatikten Hängekleidchen, Flatterhemden und Hosen, liefern eine tänzerische Burleske unter den videoanimierten Farbstudien Wassili Kandinskys: sehr klassisch und dabei in der zur Schau gestellten technischen Rigorosität auch ein wenig altbacken. Temperamentvoll und dabei doppelbödig fährt da hinein ein virtuoses Gusto-Stückchen mit Aplomb: das Solo des New Yorker Gasttänzers Amar Ramasar, der für den erkrankten Osiel Gouneo einsprang als Hexe Baba Jaga. Dazwischen flimmert, als sei es Teil der Bilderfolge, das Blaugelb der ukrainischen Flagge.
Alexei Ratmansky, Aktionist gegen den Ukraine-Krieg im Netz und auch leibhaftig, entfaltete eine solche beim Verbeugen. Das schlug Ballettchef Igor Zelensky, der den grandiosen Abend bis zur zweiten Pause hinter dem Vorhang in der Intendantenloge verbracht hatte, in die Flucht. Zu Goeckes Stück zeigte er dann sein maskiertes Gesicht und applaudierte am Ende den Tänzern. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt, bevor er wenige Tage später am 4. April als Direktor des Bayerischen Staatsballetts zurücktrat. Seine Frau, Ballettmeisterin Yana Zelensky, bleibt dank ihres NV-Solovertrags offiziell bis zum Sommer 2023 am Haus und hat jüngst die Einstudierung der Solo-Partien zur Wiederaufnahme von Roland Petits »Coppelia« geleitet. ||
PASSAGEN
Nationaltheater | 7., 12. Mai, 4. Juli | Einführung jeweils
1 Std. vor Beginn im 1. Rang | Tickets: 089 21851920
Weiteres zum Tanz-Geschehen in München finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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