Freundschaft ist vieles. Die Münchener Biennale erkundet das Thema mit den Mitteln des Musiktheaters.
Münchener Biennale 2022
Mensch im Zentrum
Einige Festivals verlieren im weltweiten Katastrophenzuwachs durch den russisch-ukrainischen Krieg, die Pandemie und den Klimawandel an Relevanz. Andere erhalten durch diesen einen Aktualisierungsschub. Zu ihnen gehört die Münchener Biennale. Kaum ging die März-Runde »Point of New Return« mit ausgewählten Nachschüssen aus den entfallenen Jahren 2020 und 2021 zu Ende, beginnt schon der (traditionelle) Biennale-Mai. Das Festival für Neues Musiktheater hat es in sich, wozu die beiden künstlerischen Leiter Daniel Ott und Manos Tsangaris mit ihrem Motto »Good Friends« den Ausschlag gaben.
Nicht nur um die »echten« physischen und digitalen Freund*innen in privaten und professionellen Netzwerken geht es. Auch algorithmenbasierte Handlungs- und Kaufempfehlungen oder Therapie- und Optimierungsangebote haben für uns eine freundschaftliche Ausstrahlung. Der Bedeutungsradius des Wortes »Freundschaft« erweiterte sich durch die Omnipräsenz der sozialen Medien und wird an seinen Rändern weich, in Richtung Vergangenheit ebenso wie in die Zukunft. Das zeigen sechs Musiktheater-Uraufführungen und zahlreiche Rahmenprogramme der Münchener Biennale vom 7. bis zum 19. Mai. Das Musiktheater, also (fast) alles zwischen Oper und performativen Grenzbereichen, entwickelt im 21. Jahrhundert spezifische, in dieser Weitläufigkeit bis dahin unbekannte Themen und Formen.
Die Münchener Biennale greift diese auf. Wie in den Anfangsjahren unter Hans Werner Henze wird Musiktheater zum Anlass für Begegnungen zwischen Geistes- und Kunstfreund*innen. Man kennt sich von Förderprojekten und Auszeichnungen der Ernst von Siemens Musikstiftung, von den Berliner Festwochen, den Wittener Tagen für neue Kammermusik, den Donaueschinger Musiktagen und internationalen Hotspots der Neuen Musik. Zugleich bestehen Beziehungen zum Veranstaltungsort München, zum Beispiel zwischen der Schriftstellerin A.L. Kennedy und der »Süddeutschen Zeitung« durch Kennedys Kolumne über den Brexit. Für Ann Cleare, die irische Hybridkomponistin und Preisträgerin des Ernst-von-Siemens-Kompositionspreises 2019, schrieb Kennedy ihr erstes Musiktheater-Textbuch. In »The Little Lives« finden Menschen aus unterschiedlichen Sphären an einem Erholungsort zusammen. Sie fallen aus ihren strukturierenden Lebenskoordinaten und geraten in den Einflussbereich einer übergeordneten Person (Uraufführung: 8. Mai, 19.30 Uhr – Utopia). Bereits Christian Jost hatte in »Die arabische Nacht« nach Roland Schimmelpfennig operngemäß darüber visioniert, wie die Bewusstseinsströme verschiedener Individuen in einer kollektiven Traumsituation zusammenkommen. Auch »The Little Lives« verwendet dieses inhaltliche Modell, durch das sich Irritation und Desorientierung in sinnfälligen szenischen Arrangements zeigen können.
Auffallend in mehreren künstlerischen Konstellationen der Biennale 2022 ist, dass sich Sujets des neuen Musiktheaters von Aktionen individueller Figuren und deren Psychologie zu Empfindungen, Wahrnehmungen und Verhaltensstrategien von Kleingruppen und Bubbles entwickeln. Auf der Handlungsebene erfolgt eine Hybridisierung wie in der Musik, die sich aus linearen Bedingtheiten löst und neben der chronologischen Funktion andere Parameter verwendet und entwickelt. Ann Cleare erweitert, so die Laudatio beim Ernst-von-Siemens-Förderpreis, die musikalische Perspektive von außen in »eine ganz andere Kunstform, die aus musikalischen Traditionen schöpft, sich aber gegen sie stellt und über sie hinausgeht. Sie artikuliert etwas, bei dem es gleichzeitig um Klang, aber auch um Energie, Bewegung, Raum und die Welt selbst geht.«
Mit einer verschärften Sensibilität gegenüber der Verwendung künstlerischer Mittel, die als ausschließend, provokativ oder traumatisierend wirken könnten, ist nach der Gärtnerplatz-Premiere von Ernst Kreneks »Jonny spielt auf« im März und der damit verbundenen Blackfacing-Diskussion zu rechnen. Über dem dokumentarischen Musiktheater-Projekt »Davor« von Yoav Pasovsky nach Interviews von Ebru Ta›demir (Uraufführung: 8. Mai ab 15 Uhr, Einstein Kultur) steht eine Triggerwarnung: »Die Produktion beschäftigt sich mit Alltagsrassismus. Das Publikum wird im Laufe des Abends rassistischen Situationen und Übergriffen ausgesetzt sein. Es gibt jederzeit die Möglichkeit, die Vorstellung zu verlassen.« Das Publikum wird in dem Environment von Robert Lehniger und Irina Schicketanz auch zu einer positiv verbundenen Gemeinschaft, welche die Ausgrenzungen und Gefährdungen von Menschen erlebt, »die hier nicht geboren sind«. Technische Hilfsmittel und ein labyrinthischer Parcours generieren eine Situation, in der Yoav Pasovsky nicht mit Bashing provozieren, sondern dieses spiegeln will. Es ist absehbar, dass es Diskussionen darüber geben wird, ob pejorative oder an Traumata erinnernde Situationen für das Publikum in einer künstlerischen Überformung legitim sind.
Selbstreferenzielle Befragungen durchziehen das Musiktheater seit dem Barock bis in die Gegenwart. »Opera und ihr Double«, das Installationsderivat einer abendfüllenden Choroper von Thomas Köck und Ole Hübner im März-Zyklus der Biennale, zeigte mit bild- und musikstarken Reibungen den Rückblick von Chor-Avataren aus der Zukunft, Reminiszenzen an das Kunstgebilde Oper und einen Cyborg, der die conditio humana ergründen will. Der Norweger Øyvind Torvund bewegt sich in »Plans for Future Operas« (Uraufführung: 13. Mai, 18 Uhr im HochX) auf Parallelspuren von Folklore und Avantgarde, deren Mittellinien er mit ungelegten Zukunftseiern des Musiktheaters pflastert. Fragmente aus fiktiven unfertigen Werken erklingen in einem konzertanten Rahmen mit projizierten Skizzen, die man auch als Serviervorschläge zur szenischen Vergegenwärtigung fiktiver Opernbruchstücke verstehen könnte. Solche Fragmente enthalten meistens einen prägnanten Fokus – ohne die Gewissheit von Vollständigkeit und Bestätigungen, von Erwartungen oder Andeutungen. Auch Øyvind Torvund spielt mit der Assoziationskraft der Hörenden.
Die Schwedin Malin Bång wiederum verwendet in ihrer Musik zwar Mittel synthetischer Tonproduktion, bezieht sich auch auf energetisch-physische Phänomene wie Körperlichkeit, Bewegung und Energie. In »The Damned and The Saved«, ihrer ersten Zusammenarbeit mit Pat To Yan, in dieser Spielzeit Hausautor am Nationaltheater Mannheim, rebellieren in der Zukunft zwei Freundinnen gegen eine Maschine an der Spitze eines repressiven Systems (Uraufführung: 15. Mai, 19.30, Muffathalle). Dystopische Stoffe wie dieser finden immer häufiger Aufnahme im Musiktheater. Zwangsläufig wurden Entstehungsprozesse der Biennale-Auftragswerke durch individuelle Erfahrungen aus der Pandemie beeinflusst. Aber die Themenwahl und Produktionsteams für 2022 standen weitgehend schon vor Corona fest. Die Münchener Biennale zeigt demzufolge eine kontinuierliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Dieses neue Musiktheater sendet keine Trost-, Hoffnungs- und Klageappelle, sondern stellt Fragen. Die Vielfalt der musikalischen Ausdrucksformen und Mittel führt nicht zu affektiver Eindeutigkeit, sondern zu Diversifizierung. Sogar das Motto »Good friends« offenbart neben positiver Energie auch Doppelbödigkeit. Und die vollkommen unterschiedlichen künstlerischen Handschriften bei der Münchener Biennale 2022 spiegeln Irritationen und reflektieren Herausforderungen, welche in den kommenden Jahren möglicherweise das globale Leben bestimmen werden. ||
MÜNCHENER BIENNALE FÜR NEUES MUSIKTHEATER 2022: GOOD FRIENDS
Muffathalle, Einstein, HMTM, HochX, Utopia, Schwere Reiter
7.–19. Mai | verschiedene Zeiten | Tickets: 089 54818181
Weitere Artikel zum Musikgeschehen in München finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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