Seit dem 24. Februar liest man in »Eine Formalie in Kiew« von Dmitrij Kapitelman über eine ukrainische Familie, die ihre Heimat verlassen hat, mit einem anderen Blick. Das Protokoll eines Landes, das es so nicht mehr gibt.
Dmitrij Kapitelman »Eine Formalie in Kiew«
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»Eine Formalie in Kiew« von Dmitrij Kapitelman ist erst ein Jahr alt. Und stammt doch aus einer Welt vor unserer Zeit. Mit acht Jahren kam der Autor mit seiner Familie aus der Ukraine nach Deutschland. Für die offizielle Einbürgerung benötigt er viel später eine beglaubigte Geburtsurkunde. Die Bürokratie verlangt von ihm, sich seinen Wurzeln zu stellen – und eine völlig unbürokratische Erfahrung zu machen. Er unternimmt eine Reise in eine Vergangenheit, die er sorgsam von seinem heutigen Leben abgetrennt hat. Für ihn gibt es Damals-Mama und Damals-Papa im Kontrast zu Heute-Mutter und Heute-Vater, zwei separate »Staatsfamilienleben«. Die Flucht ist die Trennlinie. Die »Formalie« nun zwingt ihn, diese Linie noch einmal zu überschreiten, in entgegengesetzter Richtung.
Wer den Roman vor dem 24. Februar gelesen hat, vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine, hat ihn anders gelesen. Man konnte sich auf die Geschichte einer Familie konzentrieren, auf die komplexen Dynamiken zwischen den Generationen. Kapitelman erzählt das Schmerzhafte mit viel Humor. Da ist die Mutter, die sibirische Katzen züchtet und das Haus in eine »regelrechte russische Enklave« verwandelt: »Katzastan«. Da ist der Sohn, der als Kind die sächsischen Nazis fürchtet und nun Deutscher werden will, um den Faschisten seine Wählerstimme in der Urne entgegenzuschleudern.
Nach dem 24. Februar liest man das alles auch, aber der Blick ist ein anderer geworden. Nicht nur im ukrainischen Pass machen sich düstere Vorzeichen breit: »Und während die meisten Seiten leer sind, prangt der russische Stempel aus dem Jahr 2018 ganz am Ende des Dokuments, direkt auf dem Parlamentsgebäude der Ukraine. Ein Staatsstabilitätsschelm, wer Böses denkt.« Die Ukraine war auch vor einem Jahr ein Land im Krieg, der Schmerz über die Besetzung der Krim allgegenwärtig, russische Soldaten im Donbass. Schon damals fallen Sätze wie »Nie hätte ich gedacht, dass die Ukraine und Russland mal Krieg gegeneinander führen« oder »Die Ukraine ist schon ein unglückseliges Land, jetzt wird sie auch noch in ihre Einzelteile zerrissen«.
Doch auch wenn die russische Bedrohung überall lauert, wirkt das alles, heute gelesen, beinahe unschuldig. Dieses Buch ist das Protokoll eines Landes, das es so nicht mehr gibt. Nie unverwundet und perfekt, aber voller Hoffnung, dass der »Komikerpräsident« Ernst macht mit dem Kampf gegen Korruption. Ein Land der Widersprüche, eine »grässlich geliebte Heimat«. Heute muss der Komiker zum Kriegshelden werden. Viele der Orte, die Kapitelman schildert, sind zerstört. Gerade verlassen wieder Kinder dieses Land, wieder unfreiwillig und ohne sich verabschieden zu können von ihren Freunden. Vielleicht werden auch sie eines Tages zurückgehen, um zu bleiben oder um »eine Formalie« zu erfüllen. Ihre einstige Heimat werden sie wohl nicht wiedererkennen. »Wir verlassen Kiew«, heißt es gegen Ende. »Wir verlassen uns auf Deutschland. Wer hat diesem Wort so viel Widersprüchlichkeit eingeredet?« ||
DMITRIJ KAPITELMAN: EINE FORMALIE IN KIEW
Hanser Berlin, 2021 | 176 Seiten | 20 Euro
Weitere Buch-Rezensionen finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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