Tausende russische Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler sind seit Putins Befehl zum Überfall auf die Ukraine geflohen – viele davon nach Deutschland. Putins Streben nach der Wiederherstellung des großrussischen Reiches ist zugleich eine Kriegserklärung an die Freiheit des Denkens und kulturellen Schaffens. Es könnte sein größter Fehler sein.
Ukraine-Krieg
Putins Vertreibung der Intelligenzija
»Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr, / Wir reden, dass uns auf zehn Schritt keiner hört. // Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, / Betriffts den Gebirgler im Kreml.« Knapp ein Jahrhundert, nachdem Ossip Mandelstam 1933 sein sarkastisches Poem auf Stalin verfasste und dafür mit dem Leben bezahlte, bekommen seine Zeilen neue Brisanz. Putins Befehl zum Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine sollte nicht nur ein weiterer großer Schritt zur Durchsetzung seiner Idee von der Wiederherstellung des großrussischen Reichs sein. Er markiert zugleich den abschließenden Schritt vom autoritären Machthalter zum Diktator im eigenen Land. Der Unterschied ist nicht marginal. Es geht etwas damit einher, das Putin bislang in auffallender Weise vermieden hat: die rigide durchgesetzte politische Gleichschaltung der »Intelligenzija«, also von Wissenschaft, Kunst, Kultur und Medien.
Vom Autokraten zum Diktator
Die Unterdrückung kritischer Stimmen und Institutionen unter Putin folgte lange Zeit einem Muster punktueller, freilich in jedem Einzelfall sehr gezielter und maximal schmerzhafter, auch von Jahr zu Jahr zahlenmäßig zunehmender »Warnungen«, die aber stets mit einem hohen Anteil an Willkür verbunden waren: Jeder getötete Journalist starb stellvertretend für hunderte Kollegen, die vorerst »nur« eingeschüchtert werden sollten. Mit jeder Nichtregierungsorganisation, die »staatsterroristischer Umtriebe« bezichtigt und zur Einstellung ihrer Aktivitäten gezwungen wurde, sollte die Schere der Selbstzensur in den Köpfen der Mitarbeiter jener NGOs geschärft werden, die man vorerst noch gewähren ließ.
Der Zeitraum, ab dem die Fesseln enger gezogen wurden, lässt sich rückblickend recht genau erkennen: Es begann mit der missglückten (oder, wie manche unterstellen: inszenierten) Vergiftung des Regimekritikers Andrey Nawalny im August 2020 und verstärkte sich noch einmal seit dessen Rückkehr nach Russland im Januar 2021.
Nervös und unsouverän
Nawalnys Entschluss, sich freiwillig der russischen Justiz auszuliefern und dem Apparat keine andere Option zu lassen, als ihn durch Verurteilung und Inhaftierung zum Märtyrer zu machen, kam für Putin, seine Geheimdienste und seine Einflüsterer offenbar überraschend. Man war davon ausgegangen, dass der Unruhestifter sich mit anderen namhaften und finanziell potenten Exilanten wie Michail Chodorkowski zusammentun und seine oppositionellen Netzwerke ab sofort vom Ausland aus steuern würde. Mit der inneren Kraft, mit der Nawalny seine Provokation und die Bloßstellung des »Systems Putin« auf die Spitze trieb, erreichte er zudem einen für seine Reputation und einen breiten, öffentlichen Rückhalt wichtigen Nebeneffekt: Er beeindruckte und gewann nun auch viele jener, die seine Aktivitäten bislang eher zurückhaltend verfolgt hatten – vor allem unter Intellektuellen, Künstlern und Kulturschaffenden.
Putins Regime reagierte auf diese Entwicklung ungewöhnlich nervös und wenig souverän. Rückblickend könnte sich das damit erklären, dass der Machthaber im Kreml zu dieser Zeit bereits mit der Planung eines Überfalls auf die gesamte Ukraine befasst war. Der Prozess gegen Nawalny jedenfalls fiel selbst für Verhältnisse des Justizapparats unter Putin außergewöhnlich kurz aus. Mit dessen Verurteilung und Verbringung in eine der berüchtigtsten russischen Haftanstalten wurde die Verfolgung von Kritikern des Regimes erheblich systematischer und brutaler. Und sie konzentrierte sich vermehrt auf kritische Vertreter eben jener »Intelligenzija« und auf Organisationen mit Vernetzung zu Intellektuellen und Kulturschaffenden im Westen.
Zensur in neuer Dimension
Am Morgen des 24. Februar 2022, also praktisch zeitgleich mit Putins Befehl zum Einmarsch in die Ukraine, erhielt die Verfolgung kritischer Stimmen, die bis dahin weitestgehend ohne Begründung ausgekommen war und im Fall gerichtlicher Verurteilungen kein einziges Mal einen direkten Bezug zur Tagespolitik hergestellt hatte, erstmals eine konkrete Regel: Putin unterzeichnete ein Dekret, demzufolge sich des Staatsverrats schuldig macht, wer im Zusammenhang des Geschehens in der Ukraine das Wort »Krieg« gebraucht. Stattdessen muss von einer »militärischen Sonderoperation zur Friedenssicherung« gesprochen werden. Damit bekennt sich das Putin-Regime erstmals offen zur Zensur – und hat der kritischen russischen Elite – gewissermaßen im Windschatten des Krieges gegen die Ukraine – gleichfalls den Krieg erklärt.
Schweigen wird Verrat
Anders als seine großen Vorbilder Josef Stalin und Zar Nikolaus I., die Verkündungen wegweisender Entscheidungen stets damit verbanden, auch ihre »Erwartungshaltungen« an die geistige Elite Russlands zu adressieren und damit die Grenzen zwischen »freiem« Ausdruck und Todesurteil zu beschreiben, hat Putin diesen Part zunächst einem Vasallen überlassen: »Verrat beginnt ab heute beim Schweigen«, verkündete Wjatscheslaw Wolodin, der Sprecher der Staatsduma und Deputierte der Partei »Einiges Russland«, an Tag eins des Krieges.
Im Schraubstock der Politik
Die gemeint waren, begriffen, dass damit das endgültige Ende des freien Ausdrucks in Russland besiegelt war. Tausende Wissenschaftler, Künstler, Musiker, Choreografen, Tänzer packten seitdem die Koffer und flohen. Wer sich als Angehöriger einer dieser Gruppen zurzeit im Ausland aufhält, weiß seitdem, vor welcher Entscheidung er steht: sofortige Rückkehr – alternativ: unzweifelhafte Pro-Putin-Positionierung, was das Risiko bedeutet, gekündigt und sozial isoliert zu werden; oder ein Verbleib im Exil mit drohenden, zwar noch unklaren, gewiss aber schwerwiegenden Folgen im Heimatland Russland – womöglich auch außerhalb davon. Wie weit sie gehen, haben russische Geheimdienste in den letzten Jahren hinreichend gezeigt.
Eine russische Dirigentin mit regelmäßigen, internationalen Engagements, auch an großen deutschen Orchestern und Opernhäusern, ist bereit, über ihre Situation zu sprechen, sofern ihr Name ungenannt bleibt: »Denn sie sind überall. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Selbst, wenn ich hier bleiben und ein gutes Auskommen haben könnte: Was wird aus meinen Eltern, Freunden und Schülern? Wird man sie in Ruhe lassen oder in Sippenhaft nehmen? Im Moment traue mich nicht einmal, ein Telefonat zu führen, aus Angst, sie zu gefährden.« Unter Tränen fügt die ansonsten so strahlende und stark wirkende Frau hinzu: »Und wie soll man Proben leiten, Orchester dirigieren, Inszenierungen mitentwickeln, wenn der Kopf in den Schraubstock der Politik gespannt wird?«
Exodus der Eliten
Die Direktorin und kommissarische Intendantin des Berliner Staatsballetts, Christiane Theobald, sitzt derweil in ihrem Büro vor einem Stapel an Lebensläufen: »Es ist ein Exodus der Crème de la Crème. Und ein Ausmaß, das bei Weitem die Möglichkeiten für eine Integration in bestehende Ensembles übersteigt. TänzerInnen müssen täglich trainieren können. Regelmäßige Auftritte sind ihr Lebenselixier. Wir müssen zusätzliche Möglichkeiten schaffen.« Sie denkt an die Gründung eines »Exilensembles für Frieden und Verständigung«. »Aus praktischen Gründen ebenso wie aus symbolischen sollte das aber nicht nur eine Berliner, sondern eine gesamtdeutsche Einrichtung sein.« Der Staatsministerin für Kultur, Claudia Roth, hat sie den Vorschlag bereits unterbreitet. Nun muss sich zeigen, ob mit der neuen Regierung Pragmatismus statt Bürokratie in die Kulturpolitik eingekehrt ist.
Rhetorik wie von Stalin
Parallelen zu den Fluchtwellen russischer Intellektueller und Künstler in den 1920er Jahren, nach 1945 und zwischen den 1970er bis 1990er Jahren drängen sich auf. Zumal, seitdem Putin am 17. März, knapp vier Wochen nach Kriegsbeginn und womöglich unter dem Druck, dass seine militärischen Pläne bislang alles andere als erfolgreich waren, eine weitere »Rede an die Nation« hielt – und sich mit jedem Satz dieser Rede seinen wenig schmeichelhaften, historischen Vorbildern näherte: Das russische Volk werde »stets in der Lage sein, Gesindel und Verräter zu erkennen und auszuspucken, wie man eine Fliege ausspuckt, die einem in den Mund geflogen war.« Putin hat damit die letzte Hülle fallen lassen und zeigt nun auch rhetorisch ein Gesicht, das dem jenes Vorbilds immer ähnlicher wird, von dem es bei Ossip Mandelstam heißt:
»Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer / Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag: / In den Leib, in die Stirn, in die Augen, – ins Grab. // Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten – / Und breit schwillt die Brust des Osseten.«
Verpflichtung und Chance
Mag momentan noch eine Mehrheit der Bevölkerung in Russland hinter Putin, seinem Einmarsch in die Ukraine und einer »Säuberung« der Intelligenzija stehen: Erinnerungen an die Kriege in Afghanistan und in Tschetschenien zeigen, dass sich das ändern kann – sobald die Auswirkungen das alltägliche Leben erreichen und, wie zu erwarten ist, nicht nur ein bisschen beeinträchtigen. »Wen Gott vernichten will, den verblendet er«, heißt es bei Tolstoi. Das trifft nun auch auf Putin zu. Doch seine Rede vom 17. März könnte sich in der Reihe etlicher anderer als der entscheidende Fehler in Putins machtpolitischem Kalkül erweisen: Die Geschichte hat gezeigt, dass Russlands Intelligenzija auch den bislang blutigsten und brutalsten Diktator entblößte – mit Werken, die heute zu den Klassikern des geistigen Widerstands gehören – und überstand.
Europa und die freie Welt haben angesichts vieler eigener Versäumnisse guten Grund, diesen geistigen Widerstand Russlands mit aller Kraft zu stützen. Indem wir den vor Putin geflohenen und fliehenden Wissenschaftlern, Künstlern und Intellektuellen gute Bedingungen nicht nur für ein Überleben, sondern für ihre Arbeit bieten. Ihr Exil ist Verpflichtung und Chance zugleich. ||
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