Die Aporien des Futurismus, endlich sind sie überwunden. Andreas Gerth und Carl Oesterhelt legen ein Meisterwerk vor.
Andreas Gerth & Carl Oesterhelt: »The Aporias of Futurism«
Zang Tumb!
Mit großer Geste hat der Futurist vor über 111 Jahren versucht, alle Kunst zu beseitigen: »Wir …«, behauptete Filippo Marinetti im pluralis majestatis in einer Tageszeitung, »wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und jede Feigheit kämpfen, die auf Zweckmäßigkeit und Eigennutz beruht.« Das Projekt des Futurismus ist später wegen Totalerfolgs fehlgeschlagen. Im Dezember 2021 wurde Marinettis lieblose, kriegsverherrlichende Lautcollage »BOOOOOMBOOOOOMBAAAAARDAAAMENTO. BUM BUM BUM. ZANG TUMB TUUUM«, die aus wenig mehr als diesen auf Papier aufgeklebten Worten besteht, bei Sotheby’s für genau 138.600 Euro erfolgreich versteigert. Die unsignierte, massenhaft gedruckte Zeitungsseite, auf der Marinetti sein oben zitiertes futuristisches Manifest am 20. Februar 1909 in »Le Figaro« veröffentlichte, brachte zwar nur 20.160 Euro, wird aber weiter einige »Museen, die Bibliotheken und Akademien aller Art« zieren.
BUM BUM BUM! Trotz alledem! Es gibt sie noch, die guten Avantgardisten. Auch wenn im Jahre des Herrn 1962 – von Avantgarde war da in Deutschland lange nichts zu sehen oder allzu viel zu hören gewesen – der damals noch aufstrebende Lyriker Hans Magnus Enzensberger (»verteidigung der wölfe«) einen Essay veröffentlichte, der nichts weniger wollte, als diese Avantgarde als endgültig beendet zu erklären. Enzensbergers heute selbst ikonischer Text hieß »Die Aporien der Avantgarde«. Er beginnt mit dem höhnischen Satz: »Selber zur Avantgarde sich zu rechnen, das steht jedem frei, der leere Flächen einfärbt, Buchstaben oder Noten aufs Papier setzt«, und er gipfelt 29 Seiten später in dem Verdikt: »Jede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug oder Selbstbetrug.« – BAM! Genug der Geschichte. Wenn heute, fast 60 Jahre darauf, die beiden Musiker Andreas Gerth und Carl Oesterhelt ein Doppelalbum veröffentlichen, das »The Aporias of Futurism« heißt, setzen sie dem Enzensbergerschen Verdikt ein Menschenalter später trotzig ein verblüffend angenehm zu hörendes Werk entgegen, das neben dem Futurismus zudem weitere Avantgarden wie Fluxus, Warhol, Beuys, Neue Musik, Punk und Postmoderne endlich abgearbeitet zu den Akten legt und Enzensbergers falschen Aufsatz gleich daneben unter »sinnlos« abheftet.
Der Senf nach Enzensberger und Benn
So wie Enzensberger seine Vorbehalte gegenüber der Avantgarde pflegt, so kultiviert Carl Oesterhelt seine Abneigung gegen musikmachende Computer und andere Erzeugnisse der Moderne. Telefonisch erreicht man ihn nur über einen nicht immer aktiven Münchner Festnetzanschluss. Zu jeglicher Art von Kulturbetrieb (sei es der des Pop oder der der Klassik) hält er größtmöglichen Abstand: »Es gibt wenige«, verriet er einmal der »taz«, »die wie ich ohne die Strukturen der klassischen Musik klassische Musik machen«. Vielleicht ist er sogar der Einzige. Von mir gebeten, etwas zu den »Aporien der Avantgarde« zu sagen, antwortet er höflich und sofort mit der Zusendung eines O-Tons von Gottfried Benn, den dieser 1931 ins Grammofon sprach, als sein Oratorium »Das Unaufhörliche« (Musik: Paul Hindemith) Premiere hatte. Darin heißt es: »Andererseits empfinden wir genau wie jeder andere das aktuelle Auflösungsmilieu, in dem wir stehen, das Abgleiten vieler gesellschaftlicher, religiöser und kultureller Bindungen, und wenn wir uns fragten, in welchem Milieu wir eigentlich leben, fanden wir […] ein Milieu mit einem besonders ausgeprägten Gefühl für das Unaufhörliche des Gestaltwandels allen Seins.» Beglückender Zusatz von Carl Oesterhelt: »Da brauchen wir gar nicht mehr unseren Senf dazugeben.« Und sein Kompagnon Andreas Gerth stimmt zu: »Das war das Hintergrundrauschen beim Herstellen der Musik, nur hatten wir nicht so schöne Worte.«
Keine Angst vor dicken Brettern
Carl Oesterhelt ist den Münchnern und dem interessierten Teil der Restrepublik einerseits bekannt als Schlagzeuger der ursprünglich schlagzeuglosen Denkerband Freiwillige Selbstkontrolle (FSK), andererseits selbst ernannter Komponist ernster Musik in Form von Streichquartetten, die dann in Clubs auf geführt werden, oder als Co-Worker des Ur-Kraut-Musikers Hans Joachim Irmler (»Faust«) und des Jazzsaxofonisten Johannes Enders. Irgendwie macht er immer alles, auch gerne Hörspiele, aber nichts mit dem dazugehörigen Brimborium. Spielt er mit dem Jazzer Enders zusammen, tragen ihre Werke gern überspießige Titel wie »Divertimento für Tenorsaxophon und Kleines Ensemble« oder »The Anatomy of Melancholy«. So viel zum Pop.
Mit dem ursprünglich ebenfalls in München beheimateten Elektroniker Andreas Gerth spielte Oesterhelt einmal in der Gebrüder-Acher-Frickel-Dub-Jazz-Combo Tied and Tickled Trio zusammen. Diese löste sich nach epochalen Alben 2015 mehr oder weniger in dem Moment auf, als sie den Bayerischen Staatspreis für »Professionelles Musizieren« erhielt. Seitdem unterhält Andreas Gerth in Berlin mit Florian Zimmer zusammen ein Modular-Synthie-Duo namens Driftmachine, das in den letzten sieben Jahren sechs ziemlich tolle, ziemlich abstrakte LPs auf dem mexikanischen Label Umor Rex veröffentlicht hat, wo jetzt auch das gemeinsame Werk »The Aporias of Futurism« erschienen ist. Eigentlich ist Gerth das Schaffen angesichts der Zerstörung nicht fern. 2008 hatte er, noch als »loopspool« getarnt, das »Piano Deconstruction Concert« des Aktionskünstlers Gerhard Metzger von 1966 remixt und aus dem kreatürlichen Krach knackige und knackende Tracks gebastelt. Und er war – mit dem Autor dieser Zeilen – Teil des Teams, das unter dem Titel »Unendliches Spiel« den Roman des Kultautors David Foster Wallace in Gänze zum 80-stündigen »Größten Hörspiel aller Zeiten« verarbeitete und sich dann im Lockdown an die Schwarmvertonung der Aussteigerbibel »Walden« machte. Viel Holz also.
Ringmoduliert und unkaputtbar
Doch zurück zur Musik. Kurz nachdem Enzensberger seine Wutrede über die Ausweglosigkeit der Avantgarde niedergelegt hatte, machte sich andernorts Karlheinz Stockhausen ans Werk. Er hatte den 1934 erfundenen Ringmodulator als Musikinstrument entdeckt und wollte ihn zusammen mit den Klängen eines Symphonieorchesters als Kompositionsmaschine nutzen. Seine Komposition »Mixtur für Orchester, Sinusgeneratoren und Ringmodulatoren« wurde 1964 in großer Besetzung uraufgeführt. Der gänzlich unbescheidene Komponist notierte dazu nicht ganz unzutreffend: »MIXTUR ist der Anfang der live-elektronischen Orchestermusik und hat das Bewußtsein von elektronischer Klangtransformation geprägt. … Was die Ringmodulation betrifft, … die Frequenzeinstellung, Frequenzänderung, Ausführung der Glissandi nach Gehör von guten Musikern … hat ihre besondere Qualität.«
Dem folgen jetzt 55 Jahre später Andreas Gerth & Carl Oesterhelt. Als gespielte Instrumente wird hinter Carls Namen auf der Platte »tape machine, faulty cd player, ring modulator, analog synthesizer« aufgeführt. Welche CDs Oesterhelt auf seinem kaputten CD-Spieler abgespielt hat, bevor er sie durch den altmodischen Ringmodulator gejagt hat, wird nicht verraten. Es ist auch unmöglich herauszuhören, ob da Horrorfilmmusiken, eigene Werke oder wiederum die Neue Musik der 50er-Jahre ringmoduliert irregeleitet wird. Es ist seit Leonard Bernstein auch egal, dessen wichtigster Beitrag zur modernen Musik ja sein Satz ist: »If you’re a good composer, you steal good steals.« Andreas Gerth bedient währenddessen – was immer das heißen mag – »electronic recorders, instruments and effects«: BOOOOOMBOOOOOMBAAAAARDAAAMENTO.
Die von Carl live on Tape eingespielten Tracks des ringmodulierten kaputten CD-Spielers begaben sich von München aus auf die elektronische Reise nach Berlin, wo sie von Andreas Gerth mit eigenen, selbst aufgenommenen Sounds und Geräuschen kombiniert, mit Effekten weiterverarbeitet und zu kompakten Kompositionen verdichtet wurden. Jeder Klang war laut Gerth möglich. Alles aus dem fiktiven »Ozean der Geräusche« (Gerth), in dem vom Field-Recording bis zu einem undefinierten Radioklangfragment vom anderen Ende der Welt alles schwimmt und klingt, war zugelassen. Fast alles! Denn gegen Bassdrum und Hi-Hat, jene Grundbestandteile des Rhythmus, unter dem sich inzwischen der Rest der Welt versammelt, als ob es einen Futurismus nie gegeben hätte, hatte Oesterhelt vorab Einspruch eingelegt. Gegen diese beiden, alles gleichmachenden Geräusche pflegt der Schlagzeuger inzwischen eine ähnliche Aversion wie gegen Mobilfunkgeräte, Loops oder musikmachende Computer. Auch Wörter kommen keine vor, dafür haben alle beide schon viel Hörspiel gemacht.
Betörend schöner Klangdschungel
Zu diesen ringmodulierten Pannen und ozeanischen Klängen aller Art kommt dann noch auch als Reminiszenz an Stockhausen ein analoges Streichquartett, dessen Klänge sichimmer wieder und besonders gegen Ende der dritten und vierten Seite des Doppelalbums («Annotations III & IV«) betörend schön und klagend gegen die Ringmodulatoren und Geräuschkaskaden durchsetzen. Das Streichquartett, das hier erklingen darf, ist ein mahnendes Beispiel dafür, welch großen Fehler die elektronische Musik begeht, wenn sie glaubt, auf akustische Instrumente und klassische Instrumentierungen verzichten zu können. Wie überhaupt das ganze Album durchaus harmonisch zu bezeichnen wäre und sich genau im Jenseits futuristischer Geräuschkunst angesiedelt hat.
»The Aporias of Futurism« besteht auf vier Plattenseiten aus vier großen Suiten, die, als ginge es um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung, die kargen Titel »Annotations I« bis »Annotations IV« tragen. Bei den Streamingdiensten sind die vier Plattenseiten derart als vier Stücke von 14 bis knapp 19 Minuten Länge gespeichert. Auf den LPs sind diese Annotations noch einmal in 15 gut popsonglange Einzeltracks getrennt, die die Orientierung in dem opulenten Klangdschungel etwas erleichtern. Viel mehr Hinweise gibt das wunderschöne Cover nicht. Auf dessen Innenseite sind als Referenz noch 49 vorfuturistische, reichlich obskure Bücher aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgelistet. Und mit obskur meine ich wirklich obskur, also Bücher wie »Die wissenschaftlichen Ergebnisse der Reise des Grafen Béla Széchenyi in Ostasien« von 1893, die einmal existiert haben mögen, aber aus dem Gedächtnis der Menschheit verschwunden sind. Sie haben mit der Musik nichts zu tun. Das macht sie so wichtig. Denn es ist überaus wohltuend, einmal wieder Musik zu hören, die um die Existenz solch ehemals wichtiger Dinge weiß und sich obendrein auf das Werk alter, weiser, jeglicher modischer Relevanz enthobener Männer wie John Milton oder Emil M. Cioran beruft, die auf der LP zitiert werden.
Denn alles und nichts hat mit dieser betörenden Musik etwas zu tun, die in dem großen Niemandsland oder vielleicht dem »Ozean« zwischen elektronischer Musik und klassischer bis atonaler Moderne angesiedelt ist. Wäre das viersätzige Werk »The Aporias of Futurism« nicht auf einem Elektroniklabel wie Umor Rex in limitierter 300er-Auflage erschienen, würde es als jener Meilenstein der zeitgenössischen Musik erkannt werden, den es im Innersten darstellt. Ja, auch wenn es aus der Ausweglosigkeit des Futurismus kein Entkommen gibt: Es gibt sie noch, die Avantgarde. Sie klingt inzwischen sogar recht angenehm. ||
ANDREAS GERTH & CARL OESTERHELT
The Aporias of Futurism
(Umor Rex/Morr Music)
Weitere Albenkritiken und Musikbesprechungen finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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