Ulrich Hub schreibt für Kinder, aber seine Bücher sind für alle da. Sein neuestes Werk, »Lahme Ente, blindes Huhn«, handelt von Ängsten, die es zu überwinden gilt. Und irgendwie auch vom Lockdown. Anne Fritsch hat mit Ulrich Hub über das Schreiben gesprochen, über Unabhängigkeit und neue Ideen.
Ulrich Hub im Interview
Sich einander zumuten können
Sie sind eigentlich ausgebildeter Schauspieler, haben die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg besucht. Warum haben Sie das Spielen aufgegeben?
Ulrich Hub: Das Spielen war nicht das Glück, das ich mir davon versprochen hatte. Ich bin schon als Jugendlicher pausenlos ins Theater gegangen und dachte, als Schauspieler sei das Erleben noch intensiver als beim Zuschauen. Aber das Gegenteil war bei mir der Fall. Außerdem fühlte ich mich als Schauspieler zu abhängig von den Entscheidungen anderer. Wo du lebst, wasdu spielst und mit wem, welches Kostüm du trägst, wessen Worte du sprichst …
Sie haben sich unabhängig gemacht, sind Regisseur geworden, haben eigene Stücke geschrieben. Erst eine Collage aus Briefen von Clara Wieck und Robert Schumann, dann ein Stück über Frauen im Dritten Reich und die heute unerklärliche Leidenschaft für Hitler. Wann haben Sie Kinder als Publikum entdeckt?
Nachdem ich »Fräulein Braun« inszeniert hatte, bekam ich vom Freien Werkstatt Theater Köln den Auftrag, ein Kinderstück zu schreiben. Für mich war das eine ganz neue Sache, ich wusste nicht, ob ich das kann. Aber als ich gemeinsam mit einer Schauspielerin »Der dickste Pinguin vom Pol« entwickelt habe, merkte ich, was für einen großen anarchischen Freiraum das Kindertheater bietet, da ist alles erlaubt und es gibt keine Kategorien. Erwachsene machen oft alles so unendlich kompliziert, Kinder sind da viel schlauer, die machen sich keinen Kopf und stellen nicht einmal die Frage, ob etwas nun realistisch ist oder nicht.
An den Tierfiguren haben Sie seitdem festgehalten. Was reizt Sie daran?
Der Verdacht liegt erst einmal nahe, dass man durch die Tierfiguren harmloser wird. Ich habe dagegen die Erfahrung gemacht, dass man mit Tierfiguren viel direkter und sogar gnadenloser Geschichten über Menschen erzählen und dabei auch unterhaltsam sein kann. Außerdem ist die Geschlechtszuschreibung bei Tieren nicht eindeutig, alles wird offener und vielschichtiger.
Die Figuren sind häufig ganz schön fies. Die Ente zum Beispiel nutzt das Blindsein des Huhns aus, um es anzulügen.
Stimmt. Das Huhn hat vor nichts Angst, was sowieso nicht besonders klug ist, und ist auch noch größenwahnsinnig. Die Ente dagegen ist vor Angst buchstäblich gelähmt, projiziert ihre eigenen Ängste auf das Huhn und verhindert dadurch, dass es eigene Erfahrungen machen darf. Eigentlich wie zu wohlmeinende Eltern. Bei Lesungen aus dem unfertigen Manuskript habe ich jedoch festgestellt, dass Kinder die Ente trotzdem sehr mögen. Vielleicht weil sie fürsorglich ist und sich in den anderen hineinversetzen kann – Eigenschaften, die dem Huhn völlig abgehen.
Die beiden bewegen sich räumlich nicht vom Fleck, trotzdem erleben sie einiges zusammen, wachsen über sich hinaus.
Die Ente hat furchtbare Angst, ihren sicheren Ort hinter hohen Mauern zu verlassen, eigentlich eine Art selbst gewähltes Gefängnis, und entführt das Huhn in eine aufregende Fantasiewelt. »So schön, wie du die Welt beschrieben hast«, erklärt das Huhn am Ende, »kann sie in Wirklichkeit überhaupt nicht sein«. Ich hatte das nicht so geplant, aber diese Geschichte ist natürlich auch eine Reaktion auf die Situation, in der wir uns seit fast zwei Jahren befinden. Wenn ich früher allein an meinem Schreibtisch gesessen habe, dachte ich immer: »Das ist alles so ungerecht, außer mir sind alle draußen und haben jede Menge Spaß.« Dieses Mal wusste ich, keiner ist draußen, und viel Spaß hat gerade keiner.
Freundschaft ist eines der wichtigsten Themen in Ihren Büchern, aber da ist nicht alles harmonisch und eitel Sonnenschein, es wird gestritten und gelogen.
Freundschaft ist sehr wichtig für mich, ohne meine Freunde wäre ich nichts. Wobei das Wort Freundschaft in meinen Ohren immer ein bisschen nach den Dreien von der Tankstelle klingt, ein Freund, ein guter Freund – und so weiter. Freundschaft bedeutet für mich auch, sich einander zumuten zu können, es darf auch mal ordentlich krachen und trotzdem – und genau um dieses Trotzdem geht es mir – hört man sich gegenseitig zu, respektiert sich und wächst im Idealfall sogar aneinander. Kurz gesagt: Freundschaft bedeutet, die anderen so zu nehmen, wie sie sind – und nicht, wie man sie sich wünscht. Die drei Pinguine in der »Arche« würden sich manchmal gerne gegenseitig abmurksen – aber im Ernstfall lassen sie sich nicht im Stich.
Sie halten dann auffällig gut zusammen, wenn es darum geht, etwas Verbotenes zu tun.
Absolut. Ich bin selbst am meisten überrascht, wie reflexartig alle meine Figuren jedes Verbot übertreten. Jede Tür, die tabu ist, wird sofort geöffnet. Sicherlich gibt es Verbote, die absolut sinnvoll sind – »Du sollst nicht töten«, darüber müssen wir nicht reden –, aber es gibt auch Verbote, die durchaus zu hinterfragen sind. Ist Ihnen nicht auch schon aufgefallen, dass es Leute gibt, denen es großes Vergnügen bereitet, jede Menge Verbote aufzustellen? Deren Motive darf man schon mal in Frage stellen. Das machen meine Figuren ständig. Wenn auch erst einmal zu ihrem eigenen Vorteil.
Es ist auch nur menschlich, im ersten Impuls nur den eigenen Vorteil zu sehen.
Oft bleibt meinen Figuren keine andere Chance. Die drei Pinguine in »An der Arche um 8« sind Außenseiter. Sie leben am Rand der Welt, keiner will etwas mit ihnen zu tun haben, sie stinken, und sie sind die letzten, die überhaupt einen Platz auf der rettenden Arche bekommen haben. Aber vielleicht gelingt es ihnen gerade deswegen, einen neuen Gottesbegriff zu erfinden – vom alttestamentarisch strafenden Gott zum verzeihenden des Neuen Testaments. Ähnlich ist es bei den Schafen in meiner Weihnachtsgeschichte. Mitten in der Nacht wachen sie auf, ihre Hirten sind weg, haben sie im Stich gelassen, weil sie lieber ein neugeborenes Kind besuchen wollen, das eine aufregende neue Botschaft hat. Also machen sich die Schafe allein auf den Weg, immer wieder geht eines verloren, sie kommen viel zu spät an der Krippe an. Aber die Botschaft wussten sie schon vorher: »Verzeiht euren Feinden, seid ein bisschen netter zueinander, lasst keinen zurück und jeder, wirklich jeder ist willkommen – vor allem die Kinder.«
Trotz Streit und Weltuntergang sind Ihre Bücher immer lustig.
Ich habe das Gefühl, in Deutschland herrscht immer noch die Meinung vor, dass das Lustige weniger wert sei als das Ernste. Außerdem basiert Humor bei uns – im Gegensatz zum angelsächsischen Raum – zum Großteil darauf, Witze über andere zu machen. Die Fähigkeit, über sich zu lachen, sich nicht ganz so wichtig zu nehmen, fehlt uns ein bisschen. Nicht zuletzt basiert Humor auch auf Empathie. Ein Computer kann nicht lachen. Weil er sich nicht in jemand anderen hineinversetzen
kann.
Kinder haben kein Problem mit der Gleichzeitigkeit von Witzigem und Ernstem, Lustigem und Traurigem. Oft sind es die Erwachsenen, die davor zurückschrecken. In »Ein Känguru wie du« gibt es ein schwules Tier, da gab es viele Vorbehalte von Lehrern und Eltern.
Manche Erwachsene glauben, Kinder vor gewissen Erfahrungen beschützen zu müssen. Als würden sie nicht wissen, dass es »Männchen gibt, die lieber Männchen lieben«. Im Fall vom »Känguru« wurde ich außerdem mit dem Vorwurf konfrontiert, die Story habe eine zu viel deutliche Message. Stimmt, das war durchaus so beabsichtigt, es ist einfach nicht in Ordnung, jemanden als »dumme Schwuchtel« zu bezeichnen. Dabei hat sich seit Erscheinen des Buchs und des Theaterstücks vor sieben Jahren die Situation eher noch verschärft, der Ton auf den Schulhöfen ist rauer geworden.
Das Schwulsein ist im Grunde auch gar nicht das Hauptthema im Buch. Es geht doch eher um die Frage, was sehe ich im anderen und was ist er wirklich?
Eben. Kinder sehen das genauso: Es ist vieles anders, als man gedacht hat. Wenn man überhaupt von einer Message reden will, wäre sie eher so: Glaubt nicht alles, was die Leute euch erzählen, macht lieber eure Augen auf, schaut genau hin und bildet euch eure eigene Meinung – hört dabei ruhig auf euer Herz, aber benutzt bitte auch euren Verstand.
Das möchte man gerade in diesen Zeiten, in denen Fakten und Meinungen häufig gefährlich gleichgestellt werden, auch einigen Erwachsenen mit auf den Weg geben.
Darum soll es in meinem nächsten Buch gehen, eine Fortsetzung von »Lahme Ente, blindes Huhn« mit dem Arbeitstitel: »Ungelegte Eier«. Woran kann man erkennen, was Wahrheit ist und was Lüge? Vielleicht begegnen die beiden Vögel mit ihrem kleinen Handicap jemandem, der nicht richtig hört und alles verdreht.
… und das dann weiterverbreitet.
Ja, gute Idee. Und dann wird es geglaubt. Gegen jede Vernunft. ||
ULRICH HUB, JÖRG MÜHLE: LAHME ENTE, BLINDES HUHN
Carlsen, 2021 | 96 Seiten | 13 Euro
Weitere Literatur-Artikel finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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