Kunst entsteht zwischen Menschen und in kulturellem Austausch, das demonstrieren zwei faszinierende Ausstellungen zur »Gruppendynamik« im Lenbachhaus.
Gruppendynamik
Weniger allein!
Künstler-Zusammenschlüsse hat es schon früher gegeben. Romantisch-religiös inspirierte Akademiestudenten in Wien beispielsweise gründeten 1808 den Orden des »Lukasbundes«. In Rom dann fanden sie sich, als künstlerische Außenseiter, in einem leerstehenden Franziskanerkloster mit neuen Freunden zusammen. Die damals mit dem Spottnamen Nazarener belegten »langhaarigen Altkatholiken« propagierten, rückwärtsgewandt zum Mittelalter, die Renaissance einer neue Kunst – und feierten in der Folge vielerorts Erfolge, speziell in München unter Ludwig I. Gruppe, das bedeutet quasi von selbst auch Dynamik. Künstlergruppen konstituieren und entwickeln sich im Konflikt: mit der »feindlichen« Umwelt – oder intern.
»Gruppendynamik« lautet der treffende Übertitel zweier aufwändig erarbeiteter Ausstellungen im Lenbachhaus, die eine zum »Blauen Reiter«, die zweite zu Künstlerkollektiven der Moderne des 20. Jahrhunderts weltweit. Die Städtische Galerie in der Villa des Münchner »Künstlerfürsten« ist hierzu der passende Ort. Gruppen entstehen aus dem und dynamisieren sich im Konflikt: Als Abspaltung von der »Münchener Künstlergenossenschaft königlich privilegiert 1868«, einer allgemeinen Vereinigung Freischaffender, gründete Lenbach mit Freunden die »Allotria«, zwengs der Gaudi, aber auch zur Kontaktpflege mit der gutbetuchten Gesellschaft. Bald dominierte Lenbach als Präsident der »Allotria« das Kunstleben und wurde schließlich sogar Präsident der Künstlergenossenschaft und Gründer des Künstlerhauses. Doch da hatten längst schon die Jüngeren rebelliert. 1892 vollzogen Stuck, Corinth, Behrens und Co. mit der »Secession« die erste Abspaltung der »Modernen« vom großen Tross der konservativen Platzhirsche. Auch aus der »Secession« spalteten sich rasch neue Gruppen ab, etwa 1901 Kandinskys »Phalanx« mit angeschlossener Malschule. Die neueste Formierung der Avantgarde schließlich bildete die »Neue Künstlervereinigung München«, 1908/09 im Salon Marianne von Werefkins gegründet (die dort übrigens schon 1897 eine »Brüderschaft von Sankt Lukas« um sich geschart hatte). Eine neue Avantgarde-Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern mit einem neuen Konzept vom Bild, das Jawlensky und Werefkin, Kandinsky und Münter in Murnau entwickelt hatten – zugleich das erste Kapitel der »Blaue Reiter«-Ausstellung. Denn der NMKV-Vorsitzende Kandinsky hatte den Krach mit den gemäßigteren Mitgliedern, die seinen Zug zur Abstraktion missbilligten, vorausgesehen, trat mit Münter und Marc aus und präsentierte eine schon vorbereitete Gegenausstellung der Redaktion des Almanachs »Der Blaue Reiter«.
Die Arbeit an der Publikation, das transnationale Netzwerk bei der Formulierung eines neuen Kunstbegriffs steht im Fokus der Ausstellung, mit der das Lenbachhaus seinen zentralen Schatz neu präsentiert. »Das ganze Werk, Kunst genannt, kennt keine Grenzen und Völker, sondern die Menschheit«, so formulierten Kandinsky und Marc ihr interdisziplinäres Konzept. Das vereinte die Abstraktion und neue Kompositions-Kunst Kandinskys und der europäischen Modernen mit dem »naiven«, magischen Realismus Henri Rousseaus und der Kreativität und den Formfindungen, die sich in europäischer Volkskunst, außereuropäischen Artefakten und Zeichnungen von Kindern entdecken lassen. Und die Ausstellung wiederum versucht die damalige Theorie und Praxis aus postkolonialer Perspektive zu befragen. Sie bietet auch die einzigartige Gelegenheit, prominente Leihgaben – nämlich viele der im Buch abgedruckten und in den »Blaue Reiter«-Ausstellungen 1911 und 1912 gezeigten Werke – leibhaftig zu sehen.
Hatte das Haus der Kunst 2016 eine globale Kunstgeschichte nach 1945 präsentiert, wird hier in der Ausstellung »Kollektive der Moderne« versucht, unter globaler Perspektive das Phänomen Gruppendynamik bzw. Künstlerkollektive, in verschiedenen Kunstszenen und kulturellen Kontexten, in den Blick zu nehmen. In Tokio und Kyoto, in Buenos Aires und São Paulo, in Bombay und Lahore, in Peking, Casablanca, Kartum und im nigerianischen Nsukka. Eine hoch spannende Schau, die viel Unerwartetes bietet. Es empfiehlt sich, die günstige Jahreskarte zu erwerben, um zum wiederholten Male reinzuschauen – und um den »Blauen Reiter« en détail zu inspizieren. ||
GRUPPENDYNAMIK – DER BLAUE REITER
GRUPPENDYNAMIK – KOLLEKTIVE DER MODERNE
Städtische Galerie im Lenbachhaus | Luisenstr. 33 | bis 24. April | Di–So/Fei 10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr | Kunstgespräche (gratis), jew. Sa/So 15–17 Uhr | Der Katalog zum »Blauen Reiter« (446 Seiten, 200 Abb.) kostet 48 Euro; der Katalog zu den »Kollektiven der Moderne« erscheint im März
Weitere Ausstellungen finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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