In »Die Unerhörten« erzählen antike Frauen ihre Geschichte – mit mitreißender Musik.
Die Unerhörten
Tanzen im Blutbrunnen
In den großen Tragödien sind Antigone oder Medea sehr wortmächtig. Historisch war das anders: In der Antike hatten Frauen nicht das Recht auf öffentliches Reden. Schon in den 1980er-Jahren gab Christine Brückner einigen von ihnen und ihren Nachfahrinnen eine Stimme mit ihren Bühnenmonologen »Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen«, viel gespielt unter dem Titel »Wenn Du geredet hättest, Desdemona«. Ähnliches unternimmt die 30-jährige Regisseurin Elsa-Sophie Jach im Marstall. »Die Unerhörten« sind sechs Frauen aus der antiken Geschichte und Mythologie, verknüpft am Schluss mit der Türkin Nevin Yildirim, die 2012 ihren Vergewaltiger umbrachte.
Womit der Schwerpunkt gesetzt ist: die jahrhundertealte, nie geahndete Gewalt gegen Frauen. Diese erheben hier sehr lautstark ihre Stimmen, die sie sich von Dichtern leihen: von Aischylos, Ingeborg Bachmann, Sappho bis Christa Wolf. Jach untertitelt ihre Auswahl als »Technoide Liebesbriefe für antike Heldinnen«. Für den technoiden Schwung sorgt die Band Slatec: vier rosa gekleidete Jungs auf Podesten rund um einen großen pinkfarbenen Brunnen (Bühne: Aleksandra Pavlovic). Posaunist Roman Sladek, Schlagzeuger Marco Dufner, Percussionist Samuel Wootton und Georg Stirnweiß am Synthesizer werden öfter frech direkt angespielt von den Frauen, die alle in Schwarz (Kostüme: Johanna Stenzel) aufmarschieren. Aber keineswegs trauern oder klagen. Sondern selbstbewusst ihre Geschichte erzählen, deren Deutung sie sich selbst bemächtigen. Denn um Ermächtigung und Empowerment geht es. Die Dichterin Sappho, die Nymphe Echo, die von Poseidon vergewaltigte und deshalb von Athene in ein Monster verwandelte Medusa, die vom abgewiesenen Apoll zur erfolglosen Seherin verdammte Kassandra, die betrogene Medea und die listige, ewig treue Penelope prangern das patriarchale System an. Jede der Schauspielerinnen Evelyne Gugolz, Franziska Hackl, Pia Händler, Katja Jung, Nicola Kirsch und Lisa Stiegler vermittelt in großartigen Soli die Persönlichkeit ihrer Heldin. Gemeinsam hocken sie auf dem Brunnenrand, tummeln sich auch fröhlich darin und bringen ihn mit Blut zum Sprudeln. Sie weben mal mit Heines »Weberlied« dem Patriarchat das Leichentuch, flirten die Musiker an, rocken, singen, tanzen und demonstrieren solidarisch die Überlebenskraft der Frauen. Elsa-Sophie Jach hat literarisch anspruchsvolle Texte zu einem erstaunlich vergnüglichen Abend gestaltet, der bei der Premiere sogar mit einer Musikzugabe das Publikum zum Mittanzen animierte. ||
DIE UNERHÖRTEN
Marstall | 21. Dez. (ausverkauft), 4., 23., 24., 28. Jan.
20 Uhr (So 19 Uhr) | Tickets: 089 21851940
Weitere Theaterkritiken gibt es in der kompletten. Hier geht es zum Kiosk.
Das könnte Sie auch interessieren:
Tanzhaus in München: Die drei möglichen Standorte
»Der Kreis um die Sonne« am Residenztheater
Open-Air-Theater in München: Glyptothek, Hofspielhaus, ...
Liebe Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, dass Sie diesen Text interessant finden!
Wir haben uns entschieden, unsere Texte frei zugänglich zu veröffentlichen. Wir glauben daran, dass alle interessierten LeserInnen Zugang zu gut recherchierten Texten von FachjournalistInnen haben sollten, auch im Kulturbereich. Gleichzeitig wollen wir unsere AutorInnen angemessen bezahlen.
Das geht, wenn Sie mitmachen. Wenn Sie das Münchner Feuilleton mit einem selbst gewählten Betrag unterstützen, fördern Sie den unabhängigen Kulturjournalismus.
JA, ich will, dass der unabhängige Kulturjournalismus weiterhin eine Plattform hat und möchte das Münchner Feuilleton