Die Noten tanzen – und die Bräute: Christopher Wheeldons »Cinderella« zu Prokowjews Musik beim Bayerischen Staatsballett setzt auf Opulenz, Virtuosität und Witz.

Christopher Wheeldons »Cinderella«

Der goldene Schuh

cinderella

Pas de deux: Madison Young als Aschenputtel und Jinhao Zhang als Prinz | © Sergei Gerciu

Die Premiere von Christopher Wheeldons »Cinderella« vor noch vollen Zuschauerreihen im Nationaltheater ist wohl das flamboyante Finale einer trügerischen Normalität in Zeiten der Seuche. Das Grundgefühl an diesem Abend des 19. November: Ein Tanz auf dem Vulkan für die Maskierten im Parkett, mehr aber noch für die Tanzenden, die wieder einmal nicht wissen, wie’s weitergeht.

Der Künstler ist abwesend. Aber nicht wegen Corona. Wheeldon probt sein Michael-Jackson-Musical am Broadway. Deshalb haben drei Ballettmeister die Einstudierung seines zwischen klassischem Handlungsballett und Musical changierenden Theaterdonners übernommen. Uraufgeführt 2012 vom Holländischen Nationalballett, ist »Cinderella« nun beim Bayerischen Staatsballett, wie schon »Alice in Wonderland« vor vier Jahren, als familientauglicher Kassenschlager geplant.

Dabei ist es nicht zuallererst das Ballett, sondern das Staatsorchester mit dem gutgelaunten Dirigenten Gavin Sutherland am Pult, das an diesem Abend die höchste Applaus-Phonzahl einheimst. Sutherland, ein wendiger Bär und als solcher ein Musiker- und Notenbändiger mit lustvoller Gestik, würzt Sergej Prokofjews motivisch starke Ballettmusik mit ein paar Spritzern aus Rossinis »Cenerentola«. Uraufgeführt wurde Prokofjews »Cinderella« 1945 nach unzähligen erzwungenen Änderungen, nach Krieg und Petersburger Hungerwinter, mittendrin im frostigsten Stalinismus, belegt mit der Forderung nach sozialistischem Realismus. Den zu umgehen, gelang es dem Komponisten genialisch mit doppelbödigen und dabei stringent ausformulierten Stimmungsbildern samt abgründiger Walzerseligkeit. Sutherland und das Staatsopernorchester lassen gewieft die Noten tanzen.

Und Wheeldons »Cinderella« besticht als ein geschmackvoll kolorierter Bilderrausch. Daran hat Julian Crouch, der Bühnen-und Kostümbildner, wesentlichen Anteil mit seinem untrüglichen Gefühl für edel fallende Stoffe und berückende Farbkombinationen. 360 Kostüme sind es, verteilt auf an die 40 Tänzer, und unbedingt auch dazu angetan, Wheeldons choreografische Einfälle zu verstärken. Zum Beispiel die allzu köstliche Szene, als 16 skurril ausgestattete Heiratswütige unter einem merkwürdig changierenden Baum Platz nehmen, auf 16 Sesseln in Reihe. Jede von ihnen bekommt vom Prinzen den goldenen Spitzenschuh zur Anprobe gereicht, den Cinderella auf dem Ball verloren hat. Vergeblich.

»Cinderella« auf LSD, möchte man meinen, nur dass hier kein unsichtbares Händchen OP-artig bunte Schlieren fürs halluzinogene Kopfkino zieht. Nein, ein Trupp schwarz gekleideter Tänzer als Helferlein eines Puppenspielers sowie ein Videokünstler sorgen dafür, dass ebendieser Baum im Zeitraffer die Jahreszeiten und damit die Farben wechselt, dass er wächst und seine Gestalt verändert, seine Äste wiegt und die Blätter erzittern lässt. Neben Cinderellas guten und allerlei sonstigen Geistern liefern Vogeldamen, Kastanien- und Wasserköpfige, ja sogar Kutschenräder unter diesem Baum in feenhaft leichten, aber auch schrullig-grotesken Duetten und Quartetten ihr hinreißendes Divertissement. Frederick Ashtons »Tales of Beatrix Potter« und natürlich Wheeldons »Alice« lassen grüßen …

Dabei fängt das Ballett an mit einem weitgehend pantomimischen Prolog zu einem 19. Jahrhundert-Ballettklassiker. Cinderellas Mutter hustet Blut ins Taschentuch, Vater ist besorgt und spielt mit dem reizenden Töchterchen Cinderella Ball. Als Parallelwelt liefern sich in der Familie des Prinzen zwei Buben mit hölzernen Schwertern ein Duell. Schnitt, nächste Szene: Cinderella, schon zum Aschenbrödel in graublauem Hemdkleid degradiert, kreiselt um sich selbst, isoliert von der neu zurechtgeschüttelten Familie samt Beute-Schwestern und böser Stiefmutter am Arm des eilfertigen Papas. Als Parvenü zeigt man, was man hat beim Familienspaziergang, führt die neue Garderobe aus, die aussieht, als hätte Vivienne Westwood die Theater-Toilette von Tschaikowskys/Petipas Publikum ins 21. Jahrhundert gebeamt. Und genauso sieht auch aus, was hier getanzt wird – Ballettakrobatik voller versiertester Kniffe, geschult an der Virtuosität der Ballettklassik, umweht von romantischem Air und dabei durchdrungen von skurrilem Witz.

Jonah Cook, der Brite im Ensemble des Bayerischen Staatsballetts, ist da bestens aufgehoben. Er verkörpert den Freund des Prinzen, mit dem er sich als Bub im Kinderzimmer duellierte. Der nun die Brillenschlange, die freundliche der beiden Stiefschwestern Cinderellas, zur Braut wählt. Jonah Cook ist darüber hinaus das Paradebeispiel dafür, wie beim Bayerischen Staatsballett die Stars von heute am eigenen Haus gezogen werden. Der Etat gibt es vermutlich nicht her, dass Ballettchef Igor Zelensky teuer einkaufen kann. Aber er hat den Blick für Begabungen. Die werden knallhart ausgebildet und erhalten ihre Chance zu reüssieren. Denn Zelensky, ein durch und durch autoritärer Ballettchef, hält zwar an der strengen Balletthierarchie vom Corps de ballet bis zu den ersten Solisten fest. Aber diese ist durchlässig vom Corps bis ganz oben. So kommt es, dass Madison Young als Solistin die Erstbesetzung der Titelpartie tanzt, die einer Ersten Solistin zustünde. Sie tut das mit berührender Anmut, eine zierliche Tänzerin mit beredten Armen und Händen, einer bestrickenden Bewegungskultur auf der Basis stupender Technik. Und wurde wegen ihrer Darstellung der Cinderella von Zelensky soeben zur Ersten Solistin ernannt. Ihr Prinz Guillaume ist der sprungfreudige Jinhao Zhang, wie früher schon Cook zum Ersten Solisten befördert, der nunmehr deutlich auch an Ausdruck bei der Gestaltung seiner Rollen in Handlungsballetten hinzugewonnen hat.

Seidenumweht dreht sich duftig am Ende im kurzen dritten Akt das Aschenbrödel im Arm seines Prinzen beim Hochzeitswalzer. Aber ach, es gibt wahrlich Spannenderes als so ein Happy End. ||

CINDERELLA
Nationaltheater | 12.12./26.12, 19.30 Uhr | 12.12./26.12.,14.30 Uhr | Tickets: 089 21851920 | Live-Stream am 5. März 2022

Weitere Tanz-Artikel finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.

 


Das könnte Sie auch interessieren: