Das Kunstfoyer präsentiert den Avantgarde-Fotografen Bill Brandt.
Bill Brandt im Kunstfoyer München
Der Zauber des Fremdartigen
Gut, dass er als Kind in Hamburg Bill (und nicht etwa Willy) gerufen wurde, dieser Hermann Wilhelm Brandt (1904–1983), der später in London zu einem gefeierten Fotografen wurde. Und der sich – als Sohn eines britischen Kaufmanns und Enkel einer deutsch-russischen Großmutter – absolut nicht gegen das Gerücht wehrte, gebürtiger Londoner zu sein. Für die Karriere in den 1930er Jahren war es dort nicht besonders förderlich, »deutsch« daherzukommen. Der Aufstieg des Nationalsozialismus sorgte für zunehmende Feindseligkeit. So verwischte Brandt, der zuvor auch schon einige Jahre in Wien und Paris gelebt hatte, sämtliche Spuren seiner Herkunft und behauptete, von Geburt Brite zu sein.
Das Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung widmet ihm nun eine umfassende Retrospektive mit 200 vom Künstler selbst angefertigten Handabzügen. Die Schau beleuchtet nicht nur alle Schaffensphasen des Avantgardisten ausgiebig, sondern lässt auch sein Leben in den Arbeiten aufscheinen. Vertuschung und die Schaffung der neuen Identität umgaben Brandts Leben mit einer Aura von Geheimnis und Konflikt. Das schlug sich unmittelbar im Werk nieder. Er wollte mit seinen frühen Bildern eine Vision des Landes konstruieren, das ihm zur Wahlheimat geworden war. Dabei handelt es sich aber weniger um das reale Land, sondern um die Vorstellung, die er sich in seiner Kindheit durch Lektüre und durch Erzählungen von Verwandten davon gemacht hatte.
Klingt verrückt, ist es aber nicht. Hilfreich zu wissen, dass Brandt in seinen Pariser Jahren im Studio von Man Ray arbeitete und dort sozusagen die Grundlagen des Surrealismus in sich aufsog. Zwar beteiligte er sich nie aktiv an einer Gruppe, aber die psychoanalytischen Theorien, die ja zu den Grundpfeilern des Surrealismus gehörten, hatten es ihm genauso angetan wie der gesamten Pariser Kulturszene der 1930er Jahre.
Brandts Fotografie wirkt immer etwas zwiespältig, sie ruft gleichermaßen Anziehung und Ablehnung hervor. Sie wirkt unheimlich, was zu einem charakteristischen Merkmal in Brandts gesamtem Schaffen wird. Den Begriff des »Unheimlichen« hatte Sigmund Freud übrigens 1919 eingeführt. Brandts erster Bildband »The English at Home« (1936) widmete sich den gesellschaftlichen Verwerfungen, Streiks, Protestbewegungen, die durch den Börsenkrach von 1929 entstanden waren. Er benutzte dazu ein breites Albumformat. Der Sinn: Auf den Doppelseiten bildet er gegensätzliche Gesellschaftsklassen nebeneinander ab. So entstehen zwei parallele Erzählungen. Nach Ausbruch des Kriegs arbeitete er für das britische Informationsministerium. Zwei berühmte Fotoserien entstanden: Eine davon zeigt schlafende Londoner in provisorischen Zufluchtsstätten wie stillgelegten U-Bahn-Schächten, Weinkellern im East End, Kirchenkrypten oder in den Souterrains großer Häuser. Eine Auswahl der Bilder erschien später in der Zeitschrift »Lilliput« zusammen mit Zeichnungen, die Henry Moore von denselben Motiven gemacht hatte.
Faszinierend, zumindest in ästhetischer Hinsicht, auch der Black-out ab 1939. Brandt fotografierte die geisterhaften Aufnahmen der nur vom Mondlicht erhellten Stadt, die sich so vor den deutschen Luftangriffen schützen wollte. »Die verdunkelte Stadt sah schöner aus als zuvor und je danach«, so Brandt. »Es war faszinierend durch die verlassenen Straßen zu wandern und mir wohl bekannte Häuser zu photographieren, die nicht mehr dreidimensional aussahen, sondern flach wie gemalte Bühnenkulissen.«
Landschaften, Akte und Porträts folgten. Sein Ziel: »Ein gutes Porträt sollte etwas über die Vergangenheit des Modells erzählen und etwas über seine Zukunft.« Was man darunter zu verstehen hat, zeigten etwa die Porträts, die 1941 in »Lilliput« als Bebilderung zum Artikel »Young Poets of Democracy« erschienen und wichtige Vertreter der Auden-Generation präsentieren, einer lockeren Literatengruppe britischer und irischer Schriftsteller. Später verzerrte Brandt in seinen Porträts den Raum, wie in »Francis Bacon on Primrose Hill, London« (1963). Eindeutig surrealistisch inspiriert ist etwa die Serie mit »Augen-Porträts« etwa von Henry Moore, Georges Braque, Antoni Tàpies und anderen.
In den 1950er Jahren machte er eine Porträtserie über Georges Braque an der Küste des Ärmelkanals. Kieselsteine am Strand inspirierten ihn – zu etwas ganz anderem. Er begann, Steine und weibliche Körperteile so zu photographieren, als wären sie selbst Steine. Er kombinierte Fleisch und Fels, Kälte und Hitze, Härte und Weichheit auf einzigartige Weise. Die Verzerrungen sind oft so ausgeprägt, dass die Körperteile jeden Bezugspunkt verloren haben. Dennoch rufen sie teils poetische Empfindungen hervor.
Was man von den Akten der späten 70er Jahre nicht mehr behaupten kann. Sie vermitteln eher etwas Aggressives, Gewaltsames – was auch die Entfremdung des Künstlers von der ihn umgebenden Welt widerspiegelte. Das ist bei seinen (früheren) Landschaftsaufnahmen komplett anders. Brandt selber spricht von einer Art Besessenheit: »Wenn ich eine Landschaft gefunden habe, die ich photographieren möchte, dann warte ich auf die richtige Jahreszeit, das richtige Wetter, die richtige Zeit am Tag oder in der Nacht, um das Bild zu bekommen, von dem ich weiß, dass es hier vorhanden ist.« Um eines seiner Lieblingsbilder, »Top Withens«, in den Hochmooren von Yorkshire aufzunehmen, reiste er mehrfach in den Bezirk West Riding. Im Sommer störten ihn die Touristen. Er glaubte, der neblige, regnerische und einsame November sei besser. »Aber richtig zufrieden war ich erst, als ich es noch einmal im Februar sah. Die Aufnahme machte ich kurz nach einem Hagelschauer, als ein kräftiger Wind über die Moore blies.«
Sehr wichtig war ihm, dass »der Photograph seine Bilder selber abzieht und vergrößert. Der endgültige Effekt des fertigen Abzugs hängt so sehr von diesen Arbeitsprozessen ab. Und nur der Photograph selbst kennt den Effekt, den er erzielen will.« Brandt hatte früh eine große Vielfalt an traditionellen Techniken erlernt, wie etwa Blow-up, Vergrößerung und den Umgang mit Pinseln, Schabern und anderen Utensilien. Wenn man genau hinschaut, lassen sich diese manuell vorgenommenen Retuschen gut erkennen, die den Schöpfungen teilweise einen speziellen, rauhen Charakter verleihen. Brandts Bilder der englischen Gesellschaft, Landschaft und Literatur faszinieren und sind für die Geschichte der Fotografie unverzichtbar – und als Zeitdokumente der britischen Lebensweise zur Mitte des 20. Jahrhunderts unersetzlich. ||
BILL BRANDT
Kunstfoyer Versicherungskammer | Maximilianstr. 53 | bis 28. November | täglich 9.30–18.45 Uhr | Eintritt frei, nur mit 3G-Nachweis, Maske und Online-Ticketbuchung vorab
Weitere Ausstellungen in München finden Sie in der kompletten Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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