Simon Stone versucht im Resi »Unsere Zeit« durch die Augen Ödön von Horváths zu sehen.
»Unsere Zeit« am Residenztheater
Wimmelbild in Bewegung
Simon Stone hat endlich seine Horváth-Überschreibung im Residenztheater herausgebracht. Erst war ein Dreh für Netflix, dann Corona an der Verschiebung schuld. Nun gibt es Netflix-Ästhetik satt und Corona-Thematik in Dosen in einer ausufernden Zeitdiagnostik für 16 Schauspieler und ohne Zentrum. »Unsere Zeit« ist inspiriert von Ödön von Horváths Gesamtwerk statt sich an einer konkreten Vorlage zu reiben, wie es Stone so überzeugend in seinen »Drei Schwestern« gelang. Der australische Autor und Regisseur leiht sich bloß einige Horváth-Motive und -Sätze aus und schickt sein eigenes, dauerquasselndes Personal ins Feld. Den koksenden Fußballmanager Felix (Florian Jahr), den aus dem Irak geflohenen Juraprofessor Hawal (Delschad Numan Khorschid), die Geschichtsstudentin, die sich als Nutte verdingt (Liliane Amuat) oder den korrupten Bullen, der sich selbst so beschreibt: »Kein guter Kerl. Aber auch nicht genug Eier, um ein schlechter Kerl zu sein.« Das umreißt sie fast alle ganz gut, Horváths Sich-Empor-Träumer und Kleinganoven wie die Vielzahl an Figuren, die sich im Resi an Blanca Añons Bühnentankstelle treffen. Und die ist der Hammer! Eine von diesen rundum verglasten Tanksupermärkten eins zu eins von der Vorstadt-Kreuzung auf die Bühne verpflanzt: volle Regale, Überwachungskamera über dem Tresen, die viel RealityshowBanalität und ein ordentliches Attentat zu sehen bekommt, zwischendurch aber auch Snacks und Winkekatzen filmt.
Die Warenförmigkeit unseres Lebens und der Tauschhandel sind zentrale Motive des Abends. Gier rules, das Milieu ist nicht abzustreifen. So schaute Horváth auf die Jahre zwischen den Weltkriegen, und so schaut Stone auf die Zeit zwischen 2015 und heute und versucht über fast sechs Stunden eine Spur zu ziehen von Merkels »Wir schaffen das!« bis zum moralischen Bankrott des Westens. Dabei orientiert er sich allerdings eher an Stammtischparolen und aktuellen #MeToo-, Gender-, Rassismus- und Klassismus-Debatten als an realen Menschen. Und vor allem der weiße Mann bekommt sein Fett weg. Ob er von Beginn an rechtsnational tendiert wie Max Rothbarts Martin oder erst später von Neid und Selbstmitleid zerfressen wird wie Konrad (Simon Zagermann), Dampfplauderer und Sexist aus Gedankenlosigkeit, der Hawal anfangs noch Unterschlupf und Job verschaffte. Nur Thiemo Strutzenbergers bedrohlich schillernder Borderliner-Figur Eric und Nicola Mastroberardinos komischem Pennerheiligen Massimo sind – wenn auch grundverschiedene – Arten der Katharsis vergönnt: im Kugelhagel oder bei Lieferando.
Den Scheiternden gegenüber stellt Stone smarte Vorzeigeeinwanderer und People of Colour, die auch noch einen Schlag beim jeweils bevorzugten Geschlecht haben. So drehen sich also das Paarkarussell, die Missgunstspirale und die gläserne Tankstelle. Und bis zur zweiten Pause schaut man gerne zu, wegen der Schauspieler und weil Stone das kann, Auftritt für Auftritt und Szene für Szene zu einem Wimmelbild in Bewegung zusammenzusetzen. Doch das wirklich alle aktuellen Diskurse unarmende Stück ist auch arg konstruiert und seine Überlänge macht dramaturgisch keinen Sinn. Was zu erzählen ist, wäre auch wesentlich kürzer zu haben, und die Sogwirkung lässt mit der Zeit eher nach. Etwa eine Stunde vor Schluss kann man sich kaum noch an die richtig guten Stellen davor erinnern, Schnee rieselt, Musik dräut und das finale Selbsterklärungspathos (das sehr wenig mit Horváth zu tun hat) schnürt dem Abend die Luft ab. ||
UNSERE ZEIT
Residenztheater |27., 28. Okt. | 17 Uhr | Tickets: 089 21851940
Mehr zum Theater in München finden Sie in der aktuellen Ausgabe. Hier geht es zum Kiosk.
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