Julia Ducournau gelang mit »Titane« ein Sensationserfolg bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes. Nun ist ihr Schocker über den sehr speziellen Fetisch einer jungen Frau im Kino zu sehen.
Titane
Fatale Attraktion
Fünf Jahre sind vergangen, seit die Pariser Regisseurin Julia Ducournau mit ihrem Langfilmdebüt »Raw« das (Fach-)Publikum der Critic’s Week auf der ehrwürdigen Croisette das erste Mal nachhaltig schockte. So sehr, dass eine Reihe der Premierenzuschauer*innen dieser radikalen Body-Horror-Groteske um eine vegetarische Tiermedizinstudentin, die im Reigen blutrünstiger Aufnahmerituale an ihrer Universität plötzlich zur Kannibalin wird, sogar die Vorführung vorzeitig verließen: Schwindel, Magenschmerzen und Kopfschütteln inklusive.
Dasselbe Kabinettstückchen in puncto direktester Resonanz gelang der 37-jährigen Französin dieses Jahr nochmals mit ihrem Nachfolger »Titane«. Und zwar nicht bei irgendeinen x-beliebigen Filmfestival der Welt, sondern im traditionell männerdominierten Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes. Dort mischte ihr zweiter Langfilm »Titane«, dieses unvergessliche Filmmonstrum, die schwergewichtige Konkurrenz derart auf, dass ihm die internationale Jury um Präsident Spike Lee in einer denkwürdigen Abschlusszeremonie am Ende sogar die »Goldene Palme« verlieh. Und wieder waren es Ducournaus ebenso wuchtig-brachiale wie faszinierend-verstörenden Bilderwelten (Kamera wie schon bei »Raw«: Ruben Impens), die sich beim Publikum erneut beim ersten Sehen dermaßen irreversibel ins visuelle Langzeitgedächtnis einbrannten, dass man inzwischen von nichts weniger als einer echten Filmsensation sprechen muss. Logik, Kohärenz oder Stringenz? So what!?, wenn kurz zuvor noch klebrigschwarzes Öl aus den Brüsten der Hauptdarstellerin auf der Leinwand tropfte … So wird man die dunkle Höhle des Kinos auf jeden Fall entweder mit offenem Mundwinkel oder heftigem Kopfschütteln verlassen: Oder beidem. Das steht jetzt schon außer Frage.
Schließlich handelt dieser radikal unkonventionelle, atmosphärisch ausschweifende und gängige Sehgewohnheiten lustvoll crashende Siegerfilm im Kern von einer androgynen Erotiktänzerin namens Alexia (imposant: Agathe Rouselle), die sich während sexistisch aufgeladener Automessen zuerst lasziv auf chromverzierten PS-Boliden räkelt, ehe sie außerhalb des Veranstaltungsgeländes zur eiskalten Killerin wird, die alle, die ihr zu nahe kommen, kaltblütig mit einer Haarstecknadel aus dem Weg räumt. Dabei zelebriert sie orgiastische Liebesspiele mit einem Cadillac-Oldtimer (!) im Bondage-Style, wodurch sie schwanger wird und schließlich unter unvorstellbaren Schmerzen ein seltsames Baby-Mischwesen aus Fleisch und dem titelgebenden Titane gebiert.
Dazwischen nimmt die gleichfalls schweigsame wie abgründige Frau auf der Flucht vor der Polizei plötzlich die Identität eines seit zehn Jahren verschwundenen Kindes an, wodurch sie an dessen Vater Vincent (grandios: Vincent Lindon), einen bulligen Feuerwehrkommandanten, gerät, der sie im nächsten narrativen Coup als Ersatztochter akzeptiert und vor seinen eigenen Leuten wie vor den Behörden bei sich zu Hause versteckt. Und das, obwohl er jederzeit weiß, dass es sich bei Alexia, die sich täglich ihren Busen abschnürt und das Nasenbein absichtlich an einem Waschbecken zertrümmert, keinesfalls um seinen vermissten Sohn Adrien handeln kann.
Wer da an ähnlich gepolte, offen Genrekinogrenzen sprengende Body-Horror-Filmsolitäre à la David Cronenberg (»Crash«) oder Shinya Tsukamoto (»Tetsuo – The Iron Man«) denkt, wird vieles davon in Ducournaus heterogenem Stilwillen sicherlich wiedererkennen, ohne dass es sich bei diesem synästhetischen Faustschlagfilm bloß um ein aufgehübschtes Plagiat handeln würde. Dafür sorgen bereits die ebenso stählernen wie neonfarbenen Bilder ihres Kameramanns, die sich eher an Nicolas Winding Refns Bangkok-Blutrausch »Only God Forgives« (2013) orientieren, wie auch der einschneidende Score ihres Stammkomponisten Jim Williams, der sofort eine ungemein bedrohliche Stimmung schafft und mit metallischen Klängen und verfremdeten Glocken- und Gitarrensounds sowie diversen Schlaginstrumenten punktet.
Permanent mit psychologischen Traumatamustern und neurologischen Störungen hantierend, sorgt dieser exzellente Filmkunsthybrid mitsamt seiner kaum in Worte zu fassenden, zunehmend transhumanen Hauptfigur auf jeden Fall für einen verstörenden Kinobesuch. Ducournaus »Titane« ist in der Summe längst kein perfekter, aber ein ungehemmt rauschartiger Körper-Kino-Cocktail, dem es unverdrossen gelingt, gleichzeitig Faszination wie Schauder zu generieren. Julia Ducournau wollte mit ihrem preisgekrönten Cannes-Schreckgespenst im Gegenwartkino vor allem die »Mauern der Normativität« einreißen, wie sie der Weltpresse am Abend der Preisverleihung selbstbewusst erklärte.
Das ist ihr mit »Titane« auf eindrucksvolle Weise gelungen. Nichts gegen ruhmreiche Regiegrößen und gleichzeitige Cannes-Stammgäste wie Nanni Moretti, Bruno Dumont, Ashgar Farhadi oder Jacques Audiard, die sich zusammen mit ihren neuesten Filmbabys quasi im Jahresrhythmus an der Côte d’Azur tummeln … Aber die Zeiten des allzu engen Männerzirkels rund um die Vergabe der »Goldenen Palme« scheinen seit diesem Sommer an der Croisette endgültig vorbei zu sein. Für diese Kompromisslosigkeit ist »Titane« mitsamt seiner Schöpferin schon jetzt in die Filmgeschichte eingegangen und wird zukünftig hoffentlich noch viele Nachfolger*innen finden. ||
TITANE
Frankreich, Belgien 2021 | Regie und Drehbuch: Julia Ducournau | Mit: Vincent Lindon, Agathe Rousselle u.a. | 108 Minuten Kinostart: 7. Oktober
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