Am 8. Oktober wird das neue Gasteig-Areal HP8 eröffnet. Ein Datum, auf das man sich jetzt schon freuen darf. Gegenüber vom Heizkraftwerk ist ein neuer Kraftort entstanden, der der Stadt einheizen wird.
HP8: Das neue Gasteig-Areal
Sendling leuchtet
Vielleicht ist es tatsächlich das erste Gefühl, das sich einstellt: etwas Familiäres. Es ist einladend. Trotz des unübersehbaren Durcheinanders auf einem Areal, das noch länger Baustelle bleiben wird, durchaus gemütlich. Ein wenig eng. Man rückt zusammen. Aber man findet sich sofort zurecht. Und wie auf allen Familienbesuchen tauchen Fragen auf: Wer war denn noch mal genau dieser Hans Preißinger, von dem hier überall die Rede ist, den dann aber doch wieder keiner gut kennt? Um zumindest das schnell zu klären: Er war ein SPD-Stadtrat, der sich von der frühen Nachkriegszeit an ums Stadtleben und dann vor allem um den sozialen Wohnungsbau und das Schulwesen verdient gemacht hat. Nach ihm wurde die kleine, bislang versteckt gelegene Straße am Isarkanal benannt – und heute ist er mit seinen Initialen und der Hausnummer Namenspatron im Gasteig-Ausweichquartier HP8.
Und wie bei einigen anderen lange übersehenen Schönheiten, die es schafften, neben den vielen selbstverständlichen Sehenswürdigkeiten oft märchenschlafend unentdeckt und über Jahrzehnte weggeduckt zu bleiben, ist die in den 20er Jahren erbaute Backstein-Fabrikhalle E ein Schmuckstück. Früher war sie im Auto-Getose hinter einem Zaun kaum zu erkennen. Jetzt erst sieht man, dass sie baugeschichtlich verwandt ist mit dem imposanten Backstein-Turm des Städtischen Hochhauses am Altstadtring.
Wachgeküsst
Die Halle E, die sich fein herausgeputzt zum zentralen Kopfbau des Areals mausern durfte, ist ein Schmuckstück. Eine echte Bereicherung im Stadtbild und ein Ort, den man auch nur, weil er so unerwartet rau und schön ist, auch ohne weitere Absichten gerne aufsuchen wird. Ein wenig erinnert die denkmalgeschützte Halle aus den 20er Jahren, über deren behutsame Verwandlung Architekturhistoriker mit Argusaugen wachen, damit an die Muffathalle einige Flussmeter weiter Isar-abwärts auf dem anderen Ufer. Auch sie lag über Jahrzehnte abseits der großen Besucherströme und erfüllte lange schnöde Zwecke, bis sie per Musenkuss zum pulsierenden Leben erweckt wurde.
Ganz ähnlich dürfte das in Windeseile mit der Sendlinger Halle E geschehen. In ihr wurden lange Trafos, also Energiewandler (daher das »E«) für das Heizkraftwerk gegenüber gelagert. Die entsprechenden Laufkran-Ketten und Keller-Bunker sind noch vorhanden. Aber eine komplett entstaubte Nutzung als zentraler Eingangstreffpunkt des neuen Klein-Gasteigs ist eben doch etwas viel Schöneres, ja Naheliegenderes und hoffentlich Nachhaltiges. In der Halle E versammeln sich unter dem lichtdurchfluteten Glasdach künftig Foyers, Ticketschalter, Informationspunkte, ein Lese-Café und vor allem auf den umlaufenden Rängen und Balkonen, die ein wenig an die Architektur eines Kreuzfahrtsschiffs erinnern, die Regalmeter der Stadtbibliothek. Jeder hat dort jeden im Blick. Die Wege sind kurz. Und wie auf einer guten Party oder auf dem Familienfest trifft sich dort eben die gesamte Gesellschaft, wie sie sich sonst immer in der engen Küche versammelt. Wenn die Sonne scheint, kann es wohl heiß werden. Sonst vermutlich auch. Die etwas Weltläufigeren blicken dann auf die hohen Glassprossenfenster – und denken an den trutzigen Charme der Tate Modern in London, mit der die Münchner Trafohalle tatsächlich Ähnlichkeiten hat. Allerdings eben als Mini-Kathedrale, in der nichts leergefegt wirkt, sondern in der man sicher auch gut hören kann, wann wo eine Veranstaltung endet und wo am leidenschaftlichsten übers Konzertprogramm geratscht wird.
Offener Rückzug
Wie Familienmenschen allerdings wissen: Im größten Trubel erlebt man nicht nur am meisten, man kann sich auch quasi vor aller Augen am elegantesten zurückziehen. In der Halle E dürfte sich dafür sicher auch das moderne Bibliothekskonzept der Stadtbücherei anbieten, die hier das sogenannte »Open Liberay«-Prinzip umsetzen möchte. Soll heißen: Künftig sind die ausgestellten Bestände frei zugänglich – und das an sieben Tagen die Woche von morgens um 8 Uhr bis spät um 22 Uhr. Wer sich kurz vor dem Philharmonie-Konzert noch musikgeschichtlich einlesen möchte oder nach einem Partiturband verlangt, wird fündig.
Ohnehin setzt die Gasteig-Zentralbibliothek, die sich schon ab Oktober auf das HP8-Areal, aber auch auf das frühere Motorama-Gebäude an der Rosenheimer Straße aufteilt, in Sendling stärker auf die Themenbereiche Musik, Lebenslanges Lernen und Sprachen. Aber natürlich gibt es in der Halle E auch Kindermedien. In der Stadtbibliothek im Motoroma, die zusätzlich auch die Funktion einer Haidhausen-Stadtvierteldependance erfüllen soll, versteht man sich als Spezialist für die ganze Familie – inklusive Gaming-Bereich. Was allerdings auch stimmt: Natürlich werden die sichtbaren Bestände in Sendling reduziert. 60.000 Medien werden vor Ort auf einen neugierigen Griff hin verfügbar sein. Was darüber hinaus nicht in den Regalen steht, kann allerdings – wie üblich – aus anderen Bibliotheken oder aus dem Bücherlager bestellt werden.
Ort der Nähe
Aber das Abstriche-Machen – ohne dabei das Gesicht zu verlieren – ist vermutlich der Zentralakkord, auf den Gasteig-Chef Max Wagner die Verantwortlichen aller Einrichtungen über die Planungen und dann über die vergleichweise zügig heruntergerockten Fertigstellungsmonate hinweg vertrösten musste. Und er wird sie vermutlich auch in Zukunft rund um alte wie neue Begehrlichkeiten charmant einfangen.
Allerdings dürfte Wagner ein erster großer Stein vom Herzen fallen. Am 8. Oktober werden Halle E, Isarphilharmonie und der multifunktionale Saal X in einem modernen Nebengebäude – eine Mischung aus »Black Box« und »Carl-Orff-Saal« im neuen Gewand – eröffnet. Wenn im März 2022 das gesamte HP8-Gelände fertig ist, auf dem dann auch noch die Hochschule für Musik und Theater sowie die Münchner Volkshochschule unterkommen, waren es dann insgesamt gerade mal 36 Monate Bau- und Planungszeit. Ein Tempo, auf das man stolz sein kann und Richtung Hamburg grinsen darf.
Und dabei leuchtet die neue Bescheidenheit ein. Man sieht, wie viel Geld gerade nicht verbaut wurde. Und das ist gut so. Man nimmt den Sparwillen wohlwollend zur Kenntnis. Es wird ein Sendlinger Kleingasteig der schnell vertrauten, kurzen Wege. Besonders auffällig ist das bei der Isarphilharmonie, einem modernen Zweckbau, der an dasschöne Indusriedenkmal der Halle E nur über eine glasdurchsichtige »Fuge« angeflanscht ist. Das neue Zuhause der Münchner Philharmoniker und des Münchner Kammerorchesters sowie vieler Gast-Ensembles ist ebenfalls ein Ort, dessen Sinnfälligkeit sich auch dem Laien auf den ersten Blick erschließt. Es geht hier um die Musik – und nicht um Firlefanz. Trotz der dunklen Farbgebung ist man rundum von Holz umgeben, was ein wohliges Gefühl verstärkt, sich wie in einer Nuss geborgen zu fühlen. Und es ist ein Ort der Nähe: Keiner der rund 1800 Sitzplätze ist mehr als 30 Meter vom Musikgeschehen auf der Bühne entfernt. So ordnet sich alles dem Zweck und der Akustik unter, über die mit dem Japaner Yasuhisa Toyota von Nagata Acoustics schließlich ein Meister wacht, der es wissen muss. Er sagt: »Die Musik wird auf der Bühne erschaffen, wir sind nur dazu da, sie zu transportieren«, so Toyota. »Das ist unser Ideal: Was auf der Bühne geschieht, unverfälscht an das Publikum zu übertragen.« Ob seine Versprechungen von klarem Klang und Purismus aufgehennoder nicht, werden ihm die Beckmesser ganz schnell nachweisen. Man erinnere sich mit leichtem Magengrimmen: Debatten um die Akustik der originalen Gasteig-Philharmonie haben in der musikbegeisterten, aber auch Autoritäten-hörigen Stadt schon so manchen großen Stein ins Rollen gebracht. Zumindest Ausstattungsdetails werden der Akustik diesmal nicht im Wege stehen. Die Isarphilharmonie macht einen konzentrierten, funktionalen, aber nicht kleinlichen Eindruck. Wer sich bei den Drahtverspannungen der Handläufe und Relings dennoch an den Maschendraht vom Baummarkt erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch. Ist das wichtig? Eher nicht.
Turbulent und wunderschön
Die Planungs- und Baukosten für den Gasteig HP8 betragen rund 70 Millionen Euro, davon flossen rund 40 Millionen Euro in die Isarphilharmonie. Keine Schnäppchenpreise, gerade in Zeiten klammer Kassen. Aber Zahlen, die Vergleiche ertragen: Für den vom Freistaat geplanten künftigen Konzertsaal auf dem Werksviertel werden plötzlich Baukosten in Höhe von 700 Millionen Euro debattiert. Viel Erde ist hinter dem Ostbahnhof noch nicht bewegt worden. Fürs neue München-Leuchten, das künftig auch eine starke Lichtquelle im bislang nicht unbedingt kulturverwöhnten Areal südlich des Heizkraftwerks haben wird, ist das HP8 ein Gewinn. Und architektonisch wie stadtplanerisch muss sich das Areal nicht verstecken. Das Isar-Dornröschen wurde wachgeküsst. Jetzt muss also nur Leben in die Bude kommen. Und wie bei guten Familienfesten erfolgt das zunächst einmal alles auf einen Schlag – und dann erst geordnet nacheinander. Jetzt schon mal fest im Herbstkalender vormerken sollte man sich die Eröffnungswoche ab dem 8. Oktober, in der vor allem die Münchner Philharmoniker Gas geben wollen.
Und das Durcheinander und den kreativen Trubel darf man dabei durchaus wörtlich nehmen. Immerhin geht es am Eröffnungstag mit einem Überraschungsevent los, bei dem sich auch die Orchester-Musiker auf ein Experiment eingelassen haben. Den Abend wird Christoph Marthaler bestreiten – so viel steht fest. Er hat aber auch die unmittelbar Beteiligten lange nicht eingeweiht, wohin die Reise mit dem Theatermann, der allerdings selbst auch Musiker ist, im Konzertumfeld geht. Ein spannender Trip und offenbar so unberechenbar wie ein Onkel aus der Schweiz. Noch in der Eröffnungswoche wird es zudem mit dem großen Beethoven-Trifonov-Projekt losgehen. Chefdirigent Valery Gergiev wird zur Eröffnung der Isarphilharmonie im Oktober mit Starpianist Daniil Trifonov alle fünf Beethoven-Klavierkonzerte in einem Zyklus zur Aufführung bringen. Außerdem legt Gergiev mit dem neuen »Fokus: Tanz«-Projekt los – mit Werken von Ravel und Strawinsky. Außerdem gibt es noch in der Eröffnungswoche ein Familienkonzert und am 16. Oktober ein HP8 Wandelkonzert, um alle dann geöffneten Räume auch musikalisch zu erkunden.
Nach und nach klinken sich dann immer mehr Familienmitglieder ein: Die Kulturaktivitäten zum gestaffelten HP8-Eröffnungsmarathon setzt im November schwerpunktmäßig die Stadtbibliothek fort. Im Dezember ist die Gasteig München GmbH dran – unter anderem mit einer HP8-Wiederauflage des beliebten »Gasteig brummt«-Events. Nach und nach füllt sich der Kalender. Und im März übernimmt die Volkshochschule den Staffelstab. Es wird also turbulent, laut, fordernd, ein bisschen eng, vielleicht sogar noch spätsommerlich schwitzig, aber auf jeden Fall wunderschön. Und sicher ganz familiär. Willkommen in Sendling! ||
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