Judith Hermanns erzählt in ihrem schwebenden neuen Roman »Daheim« vom Aufbruch in ein neues Leben.
Judith Hermann: »Daheim«
Weit weg
Die Geschichte entfaltet sich an einem kleinen, unspektakulären Ort, ganz oben an der Küste Deutschlands, in Ostfriesland, dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Hier, im neuen Lebenskosmos der Ich-Erzählerin, in der Nähe ihres Bruders und dessen Kneipe, in der sie arbeitet. Alles weit weg von ihrem bisherigen Leben, von der erwachsenen Tochter und ihrem Ehemann, den sie zwar wegen seiner messihaften Leidenschaft verlassen hat, mit dem sie aber noch warmherzige Briefe tauscht. Sie bezieht ein einsam stehendes Häuschen und startet den Versuch, heimisch zu werden. Sie freundet sich mit der reichlich schrägen Nachbarin und Bildhauerin Mimi an und knüpft ein paar Kontakte, muss sich erst einmal zurechtruckeln in diesem, selbst erwählten neuen Leben an der norddeutschen Küste, in der neuen Fremdheit und Einsamkeit.
Judith Hermann bleibt ihrem Stil treu, knapp, unromantisch, lakonisch, kein übertriebener verbaler Schmuck. Ein Stil, der stets die Gefahr birgt, dass jeder Satz, gerade wegen der Kargheit, mit Bedeutung geradezu aufgeladen erscheint. Beim Leser führt das dazu, dass er stets Geheimnisse vermutet, die er vielleicht nicht begreift, nicht zu lüften vermag, auch wenn es eventuell gar keine gibt. Hie und da meldet sich ihre Tochter Ann, um die Koordinaten des Ortes preiszugeben, an dem sie sich gerade auf der Welt befindet. Koordinaten! Distanzierter geht es kaum, umso größer ist die Sehnsucht der Mutter. Das erzählt Herrmann sehr gefühlvoll und auf die allerknappste Art. Literarisch poetisch wird es auch, wo die Skurrilität der Protagonisten beschrieben wird, etwa wenn es um die neue, nach Meinung der Erzählerin, viel zu junge Liebe des Bruders geht, der die 60 längst erreicht hat: Nike, die mit 23 Jahren zwar ohne Zähne, dafür aber mit High Heels durchs Gras stakst »wie ein phantastischer Reiher. Sie trägt eine Art Negligé, ein Nachthemd mit Trägern aus violettem Satin. Ihre Glieder sind weiß, lang und gestreckt«. Dass es die Harmlosigkeit des Landlebens nicht gibt, dass die seltsamsten Typen an weit entlegene ländliche Orte fliehen, um sich in ihren Schrulligkeiten zu verwirklichen, ist eines der Themen dieses Romans. Ein anderes ist die Einsamkeit, der Zustand der Welt und nicht weniger als das Leben. ||
JUDITH HERMANN: DAHEIM
S. Fischer, 2021 | 192 Seiten | 21 Euro
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