Im Residenztheater setzt Calixto Bieto Kieslowskis »Dekalog« in spannende Szenen um.
»Dekalog« am Residenztheater
Zehn Mal auf Leben und Tod
Es ist unwahrscheinlich, dass Moses die zehn Gebote auf Steintafeln von Gott Jahwe erhielt. Doch als ethischer jüdisch-christlicher Wertekanon bleiben sie in Stein gemeißelt. Nicht töten! Nicht stehlen! Die meisten Weltreligionen haben ähnliche moralische Grundregeln – es sind elementare Naturrechte, die bis heute gelten. Angepasst an unsere Gesellschaft, hat der polnische Regisseur Krzysztof Kieslowski 1988/89 mit dem Co-Autor Krzysztof Piesiewicz einen zehnteiligen Fernsehzyklus daraus gemacht, der viele Regisseure zur theatralen Umsetzung gereizt hat. In München 2005 Johan Simons an den Kammerspielen, zuletzt Christopher Rüping in Zürich, jetzt hat Calixto Bieito im Residenztheater seine auf unter zweieinhalb Stunden verknappte Version inszeniert.
Der Katalane schockierte als Bühnenberserker oft mit exzessiven Gewaltdarstellungen. Nichts davon in diesem »Dekalog«, ausgenommen eine explizit ausgespielte Mordszene. Auf der schwarzen, leeren Spielfläche verschieben sich vier fahrbare Leinwände zu wechselnden Räumen, oft definiert durch Videos, einmal wird der Isenheimer Altar nachgestellt (Bühne: Aida Leonor Guardi, Video: Sarah Derendinger). Viele der 30 Darsteller laufen in fließenden Szenen- übergängen als Passanten, Zuschauer, Augenzeugen der intimen Kammerspiel-Episoden über die Bühne. Nur ein Sänger im grünen Jogginganzug bleibt ständig präsent, singt Sakrales und englische Renaissancelieder und kurvt auch auf dem Skateboard durch die Szenen.
Die hat Bieito minimal verkürzt, manchmal ist das Grundgebot nur noch schwer zu erkennen. Aber sie werden vom hervorragenden Residenztheater-Ensemble in vielen verschiedenen Rollen durchaus breit ausgespielt. Der Vater, der die Eisdicke berechnet hat und dessen Sohn beim Schlittschuhlaufen dennoch ertrinkt. Der Arzt, der entscheiden soll, ob die Frau eines todkranken Mannes ihr Kind von einem anderen abtreibt. Der Taxifahrer, den seine einsame Ex-Geliebte am Weihnachtsabend aus der Familie herausholt. Ein brutaler Mörder, der hingerichtet wird und sein am Recht zweifelnder Anwalt. Ein junger Spanner, der seine Nachbarin ausspioniert. Eine Mutter, die ihr Kind bei der Großmutter ließ und es zurückfordert. Eine Professorin, die einst ein jüdisches Mädchen nicht vor den Nazis versteckte. Eine junge Frau, die ihren Mann betrügt und trotzdem liebt. Und zwei Brüder, die eine wertvolle Briefmarke suchen. Für sie alle geht es um moralische Entscheidungen, um falsch oder richtig, Tod oder Leben. Kieslowski trifft keine Schuldzuweisungen. Bieito auch nicht. Fast jedes Ende bleibt offen.
Immer wieder stellt jemand Kakteentöpfe auf. Versuch einer bürgerlichen Gemütlichkeit wie der Weihnachtsbaum? Auf der abstrakten Bühne liefern die Schauspieler realistisch packende Szenen. Manche sehr leise, manche laut und outriert, doch immer beklemmend. Allerdings verliert sich die Nachwirkung der oft anspielungsreichen Bilder durch die raschen Wechsel. Deshalb bleibt von dieser großen, guten Aufführung weniger im Kopf, als sie es verdiente. ||
DEKALOG
Residenztheater | 26. Juli | 19.30 Uhr
Tickets: 089 2185 1940
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»Erfolg« am Residenztheater
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