Das VR-Projekt »Mind The Brain!« macht künstlerisches Denken sichtbar und erlebbar. Ein Grenzübertritt.
»Mind The Brain!«
Durchs Hirn zur Freiheit
Es ist ein Privileg von Science Fiction, Denkbares zu Machbarem zu erklären. Wade Owen Watts, genannt Parzival, muss sich keine Gedanken darüber machen, wie er in seinen Anzug schlüpft, um Kontakt zur virtuellen Welt der Oasis zu bekommen. Er kann sich in »Ready Player One« darauf konzentrieren, böse Machenschaften eines totalitären Konzerns aufzudecken, ganz Thriller, ziemlich Hollywood, weit entfernt von einer tatsächlichen technischen Realisierbarkeit. Obwohl – lässt man die Klischees der drehbuchkonformen Erzählbarkeit hinter sich, entwickelt der Gedanke, das Gehirn und seine Impulse von schlichten Reiz-Reaktions-Schemata zu befreien, um einen offenen Raum der Wahrnehmung, Empfindung, Gestaltung zu erreichen, eine stetig wachsende Faszination. »Das Thema hatten wir schnell gefunden«, meint Oliver Czeslik, Autor und Medienkünstler von mYndstorm productions, der zusammen mit der Digitalexpertin Kathrin Brunner das Projekt »Mind The Brain!« auf den Weg gebracht hat, »das Gehirn als Zentrum der Narration. Ebenso das Ziel, dich nicht nur zum Voyeur, sondern zum Akteur und Co-Kreateur zu machen, und mich nicht nur zum Autor oder Regisseur. Dir also die Möglichkeit zu geben, die eigene Gestaltung, die eigene Narration zu entwickeln, dich inspirieren zu lassen, auch die eigene Beschränktheit zu erkennen und vielleicht ein wenig hinter dir zu lassen. Das Gehirn bietet dabei die Grundlage für offene Systeme, offene Gesellschaften und die Kraft, die dahinter steht, ohne ständig Direktiven von außen zu bekommen.«
Die Idee klingt betörend, der Weg zu ihrer Umsetzung allerdings erwies sich als mentaler und logistischer Marathon der fortwährenden Neuorientierung: »Das Ziel war von Anfang an, einen poetischen Raum – und vorher durch verschiedene Stufen eine Sensibilisierung dafür – zu erreichen. Es gab zu Beginn ein Stufenmodell, das viel mit physischem Kunstraum zu tun hat, mit einem erweiterten Kunstbegriff, mit Beuys und einer Idee, die Menschen langsam an ihre Freiheit heranzuführen.« Dazu mussten unterschiedliche Disziplinen zusammengeführt werden. Über vier Jahre hinweg stießen immer mehr Expert*innen zum Team: der Arthouse Regisseur Fred Kelemen, Forscher*innen von der Bauhaus Universität Weimar um Juliane Fuchs, Münchener BCI-Experten, Experten der Brainboost GmbH um Tobias Heiler, Wissenschaftler*innen des Forschungszentrums Jülich/Human Brain Project, VR-Spezialisten, 3-D-Artists und Programmierer mit Sebastian Esposito, Daniel Lichtenstern und Marc Hermann, sowie der Soundkomponist Nirto Karsten Fischer. Alles weitgehend aus Eigenmitteln finanziert. Als diese zur Neige gingen, stieg der FFF Bayern ein, der die konkrete Produktion 2020 ermöglichte. Czesliks und Brunners Aufgabe war nicht nur, sich mit den Perspektiven der offenen Narration auseinanderzusetzen, sondern auch die Kommunikationsschwellen der einzelnen Gewerke zu überbrücken.
Der erste Raum der Gehirnreise etwa besteht aus einer Art Kathedrale, in die nach künstlerischen Vorgaben eine Form- ästhetik des Expressionismus integriert werden sollte, einschließlich sinnvoller Lichtführung. Klar für den Künstler, Neuland für Programmierer der Virtual Reality: »Die VR hatte beispielsweise kaum Vorstellungen davon, wie Licht in großen Räumen funktioniert, welche Wirkungen dadurch erzeugt werden für jemanden, der seine eigene Kamera ist. Das wiederum war eine Herausforderung für einen filmisch denkenden Regisseur, der keine Kamera hat, sondern die jeweilige Kamera des anderen als Ausgangspunkt denken muss. In gemeinsamer Arbeit haben wir ein Art virtuelles Drehen entwickelt, Schienen gelegt und insgesamt acht virtuelle Dollys durch den imaginären Raum gefahren. So etwas wurde meines Erachtens sonst noch nicht erprobt, jedenfalls brauchten wir die Erfahrungen der sehr verschiedenen Profis. Letztlich aber wäre es gar nichts ohne die Technikabteilung geworden, die es pioniermäßig mit Tools wie Unity geschafft hat, die Signale des BCI (Brain Computer Interface) auf die Virtual Reality zu übertragen. Diesen Punkt zu überschreiten, das war der Knackpunkt. Wie wir diesen Kontakt sinnvoll setzen und ob die Bilder die Signale nicht nur empfangen, sondern auch verwandeln können. Neben diesem technischen Aspekt stellte sich inhaltlich die Frage, wie weit wir mit unserem Anspruch an die Grenzen kommen, den Leuten ihre Freiheit zu lassen, bzw. wie deutlich wir Strukturen vorgeben müssen.«
Alle Ebenen jedenfalls führen hin zum poetischen Raum am Schluss von »Mind The Brain!«. Gehirnreisende bekommen ein Sensorennetz, eine VR-Brille und Kopfhörer aufgesetzt, um in Kontakt mit den visualisierten Räumen und Strukturen des Gehirns zu treten. Die empfangenen Signale steuern unter anderem die Verweildauer in den einzelnen Modulen, die Übergänge, Bewegungsrichtungen, Reaktionsintensitäten. Von Raum zu Raum nimmt einerseits die Abstraktionsstufe, andererseits die Freiheit der eigenen Gestaltung zu, bis hin zum poetischen Raum, in dem die BCI-Steuerung es zulässt, Schwarmstrukturen unter anderem nach archetypischen Bildern zu gestalten. Hier fiel die Entscheidung, sich auf ein Bildreservoir zu beziehen, das seit der analytischen Psychologie von C.G. Jung als Pool von vorhandenen Mustern beschrieben wird. Denn Archetypen sind Urprägungen des Unbewussten, die in bestimmten Zeichen und Bildern ihren Ausdruck finden. Sie sind relativ frei kodiert, lagern in den Tiefen des Gehirns und auch im »Unbewussten« des Systems von »Mind The Brain!«.
Es liegt an der Einbildungskraft der Einzelnen, welche er oder sie davon in den poetischen Raum hervorzuholen vermag. Bilder von Leben, Tod, Lachen, Liebe – Bilder vom Reiter des Todes bis hin zum Schmetterling der Glücks. Bilder, die ein Einzelner erzeugt und die ihm auch gelassen werden: »Wir verweigern uns auch den Daten, sobald sie gesendet wurden. Da wird nichts gespeichert, wir geben sie damit den Einzelnen zurück. Trotz allem sind es enorme Datenmengen, die bearbeitet werden. Anhand der Interpretation dieser Daten können wir emotionale Zustände herausfiltern, die sich in Bewegung übersetzen. Und aus diesen Bewegungen morphen sich dann die Bilder. So entstehen eigene Bilderketten und Beziehungen, die unabhängig von dem System sind, das sie herstellt. Sie funktionieren nur über das momentane Empfinden, Erleben. Ein Spiegelbild, ein Tanz, der auf dich reagiert, ohne Steuerung von außen. Was entsteht, ist dir überlassen.« Vier Jahre und viele Kämpfe hat das Projekt seit seiner Entstehung hinter sich gebracht. Wenn nicht die Hygienebürokraten des Kreisverwaltungsreferats noch in letzter Minute wieder Vorhängeschlösser verteilen, dann können im Blitz-Club auf der Museumsinsel jeweils dreimal am Tag Menschen auf die Reise gehen. Jeweils eine/r im Publikum wird verkabelt, alle anderen können sie/ihn auf dem bildopulenten Neuro-Travel mit Sound und Projektion begleiten. Ein berauschendes, perspektivisches Experiment: »Denn die meisten Rezeptoren unserer Neuronen liegen ungenützt da, weil wir immer die gleichen verwenden, um etwas zu erreichen. Diese Struktur einmal aufzubrechen mit den Möglichkeiten des eigenen Gehirns, das ist eigentlich das Ziel«. ||
MIND THE BRAIN! – A NEUROREACTIVE VR INSTALLATION
Blitz Club | Museumsinsel 1 | 2.–5.Juli
verschiedene Zeiten ab 16 Uhr
Hier geht es zum Kiosk
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