Das Haus der Kunst lädt zu einer einzigartigen Retrospektive der britischen Künstlerin Phyllida Barlow – eine Inspiration.
Phyllida Barlow: »Frontier«
Offen für das Unmögliche
Phyllida Barlow ist ein Phänomen in der Kunstwelt. Dass die Werke der 1944 geborenen Britin sämtliche Dimensionen sprengen, ist vielleicht noch nicht ganz so ungewöhnlich – im Haus der Kunst reichen sie bis zur Decke oder füllen den größten Raum im Erdgeschoss bis zur Hälfte mit einer gigantischen Landschaft aus Platten und Säulen. Dass ihre Werke jedoch nach ihren Ausstellungen meist wieder zerstört, zumindest aber immer wieder abgebaut und neu arrangiert werden, wenn Barlow sie für die jeweiligen Räume, in denen sie präsentiert werden, verändert, das ist in unserer Welt der Eitelkeiten schon eigentümlicher. Ihre Objekte sind Gegenwart, nicht für die Ewigkeit gebaut, keine unantastbaren, unwandelbaren Kunstwerke, von denen immer weitere neu dazukommen und bleiben. Dass das Haus der Kunst in München nun der langjährigen Professorin für Bildende Kunst, die Großbritannien 2017 bei der Biennale in Venedig vertreten hat, die größte Retrospektive ihrer fast 60 Jahre währenden Karriere widmet, kann man nur als Geschenk empfinden.
Barlow arbeitet mit Bauholz, Vierkanthölzern, Abdeckplatten, Bitumen, Papier, Zeltplanen, Schaumstoff, Polyurethanschaum – keine edlen Materialien, sondern Industrie- und Alltagswerkstoffe, Überreste und Wertstoffmüll. Der erste Schritt in die Ausstellung führt in einen Wald explodierender Farben. Bis an die Decke ragen zahllose, dicht stehende, farbbekleckerte Bauholzstangen, von denen meterlange Stoffbahnen in leuchtenden Orange-, Rot- und Gelbtönen hängen und in etwa zwei Meter Höhe über dem Boden enden, zu ihren Füßen werden sie gestützt und gehalten von knallorangen, dick gefüllten Säcken, die von der Größe an Sandsäcke beim Hochwasserschutz erinnern, farblich an Rettungswesten. Passiert man diesen Wald aus Stangen, setzt die eigene Bewegung ein Feuerwerk sich ständig verändernder Perspektiven in Gang – die hohen filigranen Stäbe in der Mitte, die grellorangen Wurzeln und die riesigen faltenwerfenden Stoffbahnen in der Höhe, die sich mit jedem Schritt anders präsentieren. Wie mit einem Knall reißt diese Installation den Besucher in die pure Gegenwart. Eine unbändige Kraft, eine überbordende Energie geht von diesem Kunstwerk aus. Und das ist erst der Anfang.
Im nächsten Raum wartet nichts weniger als eine gigantische Höhlen- und Felslandschaft, schlammfarbene, baumstammartige Säulen, die seltsam lebendig wirken, ragen auf. Zahllose ineinander- und übereinanderragende rot und gelb bemalte quadratische Abdeckplatten schweben auf halber Höhe und bilden eine schräge Ebene, überragt von den gleichen schlammfarbigen Säulen, die oberhalb jedoch gespalten sind wie riesige Nadelöhre. Wer sich bückt, kann unter diese Platten treten, wer diese Landschaft umrundet, läuft Gefahr sich an deren scharfen Kanten zu stoßen, denn die schiere Größe und der Kontrast zwischen den organisch wirkenden Säulen unten und oben und den industriellen, aber farbenfrohen Platten in der Mitte bringt einen ins Taumeln. Auch hier lässt sich das Phänomen einer steten Wandlung beobachten, je nach Standort wirkt die Installation trostlos oder farbenfreudig, gestaltet oder chaotisch, lebensfeindlich oder lebensfroh, löst sie Angst aus oder Geborgenheit. Es ist die Offenheit, die diesen Objekten und Installationen in all ihrer Schönheit diese dynamische Kraft verleiht. Als würde Phyllida Barlow uns die Wunden, die wir dieser Welt zufügen, präsentieren und zugleich zeigen, dass es so einfach nicht ist – dass sich über die Dinge nicht so klar urteilen lässt, dass es vielmehr auf den offenen, den wertfreien Blick ankommt.
Und dieser wertfreie Blick wird nicht etwa eingefordert, sondern wohnt gleichsam in den Objekten selbst. Hier wird weder angeklagt noch schöngeredet, aber es wird das Unmögliche zugelassen. Etwa in einem der nächsten Räume, in dem uns ein filigranes Konstrukt aus meterhohen Vierkanthölzern erwartet, die mit Gipsbinden verbunden scheinen und weit oben riesige Quader tragen, die aussehen wie Betonblöcke und nach allen Regeln der Schwerkraft abstürzen müssten. Oder die ähnlich bei der Biennale 2017 installierten, fast bis zur Decke reichenden Säulen, die wie Elefantenbeine und wie antike Säulen zugleich aussehen, aber nichts tragen als dicke, schwer wirkende Platten, die prekär weit über die Säulenfläche hinausragen. Und damit nicht genug: Die Säulen sind von unten bis oben aufgeschlitzt und geben ihr hohles Inneres frei. Und das ist nur ein kleiner Teil dieser atemberaubenden und inspirierenden Werkschau, die Kurator Damian Lentini erarbeitet hat. Von riesigen Platten, die aus der Wand ragen und aussehen, als wären es Steinplatten, hängen bunte Tücher herab. Verknotete weiße, ungebleichte Leinenbänder mit fransigen Kanten bilden einen übermannsgroßen Kubus. Segelartig geschwungene Netze, wie aus einem grauen Gipsbad gezogen, hängen weit oben zwischen Stangen. Ein einziger Parcours an Überraschungen.
»Vielleicht kann ich loslassen«, schreibt Barlow am Ende ihrer Gedanken zum Aufbau der Ausstellung im Haus der Kunst, wo »Sichtlinien, Diagonalen, Rechtecke, Zugänge, Breiten, Längen, und natürlich die erschreckenden unerbittlichen Höhen« sich »verschwören«. Man verlässt diese Ausstellung demütiger, offener und hoffnungsfroher – vielleicht kann man loslassen. ||
PHYLLIDA BARLOW. FRONTIER
Haus der Kunst | Prinzregentenstr. 1
bis 25. Juli | Mo bis So 10–20 Uhr, Do bis 22 Uhr | digitale Angebote zu den Ausstellungen des Hauses unter »Programm«, »Kalender«, »Medien« und »Blog« auf der Homepage
Der schöne Katalog (Hirmer, 300 Seiten, 272 Farbabbildungen) erscheint im Mai und kostet 49,90 Euro
Hier geht es zum Kiosk
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