Lisa Krusche und Sophie Hardcastle erzählen in einer farbenreichen Sprache, wie junge Frauen um die Hoheit ihres Lebens ringen.
Lisa Krusche & Sophie Hardcastle
Im Bann der Farben
Charles ist anders. Das betrifft ihren Namen, der nicht groß erklärt wird, und vor allem ihre Persönlichkeit. Die Tochter eines Künstlerpaares, das permanent um sich selbst kreist, hat früh Verantwortung übernommen: für sich, ihren Bruder Nico und für ihren Vater, der in einer Manie schon mal nackt durch Berlin sprintet. Mittlerweile lebt die Familie in einer Hippiekommune nahe Hildesheim, wo Charles am liebsten mit ihrem Stoffoktopus spricht, denn »die Tatsache, dass er weder menschlich noch lebendig ist, macht ihn nicht zu einem schlechteren Freund«. Es gibt aber noch bessere: Mit Gwen trifft Charles auf eine ähnlich vernachlässigte Seele, die ihre Verletzungen in Aggressionen und Gewalt gegen sich selbst und andere kanalisiert: »Meine Wut ist größer als ich, sie ist alles, was ich bin, und noch mehr, sie ist meine Hingabe, sie ist überall, und das ist gut, weil sie dann auch in jeder meiner Bewegungen ist.«
Wie sich diese verwundeten jungen Frauen vorsichtig aufeinander zubewegen, ihre (Innen-)Welten öffnen und sich gegenseitig aus der Einsamkeit befreien, erzählt Lisa Krusche intensiv, bilder- und farbenreich aus beider Perspektiven. Charles wird dabei auch mal sarkastisch – vor allem im Dialog mit ihren kindischen erwachsenen Mitbewohnern. Die hochsensible Gwen flüchtet sich indes in Tagträumereien, in denen sie als »astronautin ohne raumschiff« weit über dem Mond schwebt. Durchsetzt sind diese inneren Monologe von Slang und kleingeschriebenen Social-Media-Posts wie »wer zur hölle bin ich & wie soll ich es mit mir selbst aushalten hat irgendwer ein passendes meme?«.
Auch Sophie Hardcastle spielt mit dem Namen ihrer Protagonistin. Als sich Oli per Mail für die Überführung einer Segelyacht nach Neuseeland bewirbt, hält der Skipper sie für einen Typen. Trotz Bedenken nimmt er sie in seine Männercrew auf: »Es bringt Unglück, ein Mädchen an Bord zu haben.« Oli fährt da bereits seit vier Jahren zur See. Ihre Begeisterung verdankt sie Maggie: Von den Eltern emotional vernachlässigt wie Gwen und Charles, hat Oli mit Anfang 20 in der deutlich älteren blinden Frau eine Seelenverwandte gefunden. Oli und Maggie verbindet ihre Synästhesie – das heißt, »sie sehen Farben, wenn sie Geräusche, Wörter, Zahlen oder sogar Zeiten hören oder an sie denken« – sowie die Liebe zur Kunst und zum Meer. All dies verwebt Sophie Hardcastle in »Unter Deck« zu einem dichten, funkelnden Text. Der Turn trennt Olis Leben in ein Davor und Danach.
Gleich zu Beginn bricht sie sich auf Deck eine Rippe, kann sich in der Runde nicht mehr behaupten und wird in die Rolle der hilflosen Frau gedrängt. Als sie sich eines Nachts der Zudringlichkeiten eines Crewmitglieds nicht mehr erwehren kann, versucht Oli, den Sex bewusst zuzulassen, um ihre Selbstbestimmtheit zu bewahren: »Ich entscheide. Wir entscheiden uns dazu zu atmen, nicht wahr?« Oli verlässt das Schiff traumatisiert, sie versinkt in Sprachlosigkeit und wird lange brauchen, bis sie die Vergewaltigung benennen und zu sich und ihrem Körper zurückfinden kann.
Gwen listet ihre von klein auf erlittenen sexuellen Übergriffe in »Unsere anarchistischen Herzen« fast buchhalterisch auf. Doch die Wut schreit aus jeder Zeile: »ich bin egal wie-alt und alles, was ich mir wünsche, ist, dass ihrs endlich kapiert, oder Fäuste aus Gold.« Krusches und Hardcastles Heldinnen reagieren ganz unterschiedlich auf Vernachlässigung und Gewalt. Die Universalität ihrer Erfahrungen tritt umso deutlicher hervor. ||
LISA KRUSCHE: UNSERE ANARCHISTISCHEN HERZEN
S. Fischer, 2021 | 448 Seiten | 22 Euro
SOPHIE HARDCASTLE: UNTER DECK
Aus dem australischen Englisch von Verena Kilchling | Kein & Aber, 2021 | 320 Seiten
23 Euro (erscheint am 11. Mai)
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