Über Grenzen: Das Kinder-Tanzstück »Ich war das nicht!« als Video on demand
»Ich war das nicht!«
Wahrheit und Selbstwirksamkeit
Peng! Schepper! Bautz! Scherben klirren. Etwas ist zu Bruch gegangen – und nicht zum ersten Mal. Aus dem Off beteuern Kinderstimmen in verschiedenen Sprachen: »Ich war das nicht!«, »Ich wollte nur…«, »Als ich gekommen bin, war das schon so.« Wer Kinder hat, kennt das. Wer keine hat, fasse sich an die eigene Nase. Sind wir wirklich in jeder Situation bereit, zu dem zu stehen, was wir verbockt haben? Die Tänzerinnen Sabine Karb, Barbara Galli-Jescheck und Lisa Lugo sind es erst mal nicht. »Ich war das nicht« beginnt auch gestisch mit Fingerpointing, mit einer flotten und witzigen Choreografie von verneinenden, ablehnenden und ablenkenden Arm- und Handbewegungen nebst den dazugehörigen Unschuldsmienen. Iiich?
Es macht großen Spaß, den dreien zuzusehen, wie sie in zweilagigen bunten Shirts und Kniebundhosen aus Sweatstoff über die Bühne tollen, mal tänzerisch und emotional Teil eines Ganzen, dann wieder jede für sich. Dabei täuschen sie nicht mehr Kindlichkeit vor, als noch in ihnen steckt; vergnügt in Bauchlage mit den Beinen pendelnd oder hinter dem Rücken der anderen Hasenohren antäuschend, und nur manchmal zu viel Schauspiel versuchend.
Das Tanztheaterstück für Kinder von acht bis 12 Jahren, das Sabine Karb zur beschwingten Musik von Loni und Daniel Lipp choreografiert hat, strahlt eine große Leichtigkeit aus; auch deshalb, weil es trotz des Themas weitgehend auf pädagogische Messages verzichtet. Erst ganz am Ende bricht aus den bis dahin stummen Performerinnen ein wahrer Schuldgeständnissturzbach heraus, gefolgt von einer Welle der Erleichterung. Das zeigt, dass es sich lohnen kann, die Wahrheit zu sagen und geht in Ordnung, weil es ja auch stimmt. Spannender aber ist, wie die mit Gegenständen übersäte Bühne des HochX, wo die vorerst nur im Stream zu sehende Produktion aufgezeichnet wurde, nach und nach immer mehr als Labor etabliert wird. Das beginnt im Kleinen, mit der Lust, etwas fallen zu lassen, mit dem Risiko als Option, mit der leichten Überdosierung von Kraft und Energie, die schon das Über-den-Boden-Rollen zu einer Beinahe-Grenzüberschreitung macht. Und Zug um Zug bekommt dieses Tanztheaterstück einen immer größeren Materialtheater-Anteil. Besonders schön zeigt das Galli-Jescheck, als sie sich ein Kissen schnappt, einen wachsam- schuldbewussten Blick in die Runde schickt und dann mit einem entschlossenen Ratsch die Hülle aufreißt. Was für eine Wonne! Man spürt schon beim Zusehen, wie weich die Füllung des Kissens flockt, wie gut die Flugeigenschaften ihrer Partikel sind und wie viel Spaß es macht, mit ihnen Bilderrahmen und Vasen zu schmücken. Sie flutschen in Leinwandschlitze hinein und unter Shirts und Hosen, machen dicke Hintern, breite Schultern und polstern den Körper hervorragend beim Abrollen ab. Wer könnte da widerstehen?
Ohne Grenzüberschreitungen gibt es weder Wissenschaft noch Kunst. Verborgenes und noch Unbekanntes mit den Händen ans Licht zu schaufeln, mit dem Körper zu erkunden und sich dadurch zu eigen zu machen sind wichtige menschliche Grunderfahrungen. Gerade für Kinder, die derzeit allzu oft brav und vernünftig sein müssen. Und die Lust daran wird hier nicht zensiert, sondern breitet sich wie ein süßes Virus aus. Die drei bekleben einander mit Gaffer-Tape, täuschen vermeintliche Verletzungen und Schmerzen an und sagen Ätsch nur mit dem Körper. Und wie hier Körper und Dinge aufeinander bezogen sind, kommt im Stream mit seinen wechselnden Kameraperspektiven, Mehrfachbelichtungen und der Möglichkeit, auch sich bewegende Gegenstände in Zeitlupe zu zeigen, sogar besser heraus als live vor Ort. Denn der von den Choreograf*innen Stephanie Felber und Ludger Lamers geführte Zuschauerblick fokussiert gerne auf Details: Im Bühnenvordergrund dreht Lisa Lugo einen Gegenstand und im Hintergrund dreht sich synchron dazu ein Körper, ein Blütenblatt wird fallengelassen und Tänzerinnen sinken zu Boden. Ein schönes Bild für die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und der Freiheit im Spiel: Alles ist möglich! ||
ICH WAR DAS NICHT!
bis Mittwoch, 5. Mai als Video on demand auf SPECTYOU
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