Mit »Kitzeleien« bringen Thorsten Krohn (Regie) und Lucca Züchner (Spiel) ein fulminantes Solo zum Thema sexueller Missbrauch auf die Bühne.
»Kitzeleien« an der Kulturbühne Spagat
Alles andere als ein süßes Geheimnis
Es gehört zu den zahllosen Absurditäten der Corona-Zeit, dass ein Stück wie dieses nicht vor Publikum gezeigt werden darf, obwohl die Themen sexueller Missbrauch und Kindesmisshandlung im immerwährenden Lockdown brennender und aktueller sein dürftendenn je. »Kitzeleien – der Tanz der Wut« ist ein autobiografischer Text der französischen Tänzerin, Schauspielerin und Regisseurin Andréa Bescond, der mit ihr selbst auf der Bühne etliche Preise gewann. Nach der Premiere in Avignon 2014 ging Bescond mit ihm verschiedentlich auf Tour. Eine Filmversion wurde als »Les Chatouilles« unter der Regie von Eric Métayer unter anderem auch beim Festival in Cannes gezeigt und war erst im März im französischen Fernsehen zu sehen.
Laut Facebookseite der Autorin schauten 3,6 Millionen Menschen zu. Das wunderbare Münchner Theaterpaar Thorsten Krohn und Lucca Züchner ist an das Stück über den LITAG-Verlag gekommen, der ein Haus für die Deutsche Erstaufführung suchte. Und mit Stephanie Tschunko von der Kulturbühne Spagat fanden die beiden eine engagierte Produzentin. Dort, mitten im heterogenen Neubauquartier Domagkpark, haben sie das Solo für eine tanzbegabte Schauspielerin für Ende Februar premierenreif geprobt und dann doch wieder liegen lassen müssen, bevor es nun in einer verkappten Nichtpremiere wenigstens einzelnen Pressevertretern gezeigt werden konnte. Schon Züchners Freude darüber ist zum Heulen. Und die hochpräzise Energieleistung, mit der sie in diesen knapp eineinhalb Stunden unter Krohns klar strukturierender Regie ein knappes Dutzend Figuren anreißt und oft nur für Sekunden plastisch werden lässt, ist unbedingt erlebenswert.
Im Zentrum dieses in der zeitlichen Chronologie wild vor und zurück springenden Stückes steht Odette. »Odette, wie der weiße Schwan in ›Schwanensee›« erklärt die fröhliche Achtjährige dem netten »Onkel« und Freund ihrer Eltern, bevor er mit ihr im abschließbaren Bad »Puppe spielt«. Alternierend mit dem missbrauchten Kind begegnet man auch immer wieder der erwachsenen Odette, die endlich vor Gericht geht und mit ihrer unfassbar kalten Mutter zum Psychiater, sowie den Odette-Aggregatzuständen dazwischen in diversen Tanzstunden, bei erniedrigenden Arsch-und-Titten-Castings und im Drogendelirium, nicht mehr wissend, wie ihr aktueller Lover heißt: »Tom? Achmed? Chris?« So geht es für die tänzerisch Hochbegabte nach der Palucca-Schule in Dresden die Karriereleiter abwärts und die Emotionsklaviatur von dunklem Moll in verzweiflungshysterische Höhen hinauf. Züchner, die Ex-Musicaldarstellerin und Ex-Schauburg-Akteurin kann das: die unterschiedlichsten Zeiten, Orte und Menschen allein durch ihren Körper Gestalt annehmen lassen, tief berühren und zugleich auf oft witzige Art unterhalten.
Mit klar zuordenbaren Stimmen, einzelnen stilisierten Moves, komplexeren tänzerischen Bewegungsfolgen oder nur einer Veränderung in der Mimik lässt sie die Figuren ineinanderfließen. Das Gesicht wird spitz, der linke Arm parkt rechtwinklig vor der Brust, während die rechte Hand etepetete ans Kinn wandert: Man steht vor Odettes narzisstischer Mutter. Ein gutmütiger rheinischer Singsang und etliche fahrige Bewegungen über den eigenen Körper: Odettes Kindertanzlehrer tritt auf. Und der freundlichste Ton gehört perfiderweise dem Misshandler, der »mit seiner Hand rumkratzt« in dem Kind und es selbst im Internat nicht in Ruhe lässt. »Kleine Kitzeleien« nennt er das Geheimnis, das das einsame Mädchen wie einen Schatz hüten soll und das Odette tatsächlich erst als Dreißigjährige enthüllt.
Dazwischen pflegt sie den Selbsthass, sonst nichts. Als Züchner als große Odette die kleine dafür um Verzeihung bittet, bricht einem fast das Herz. Schlimm auch zu sehen, wie der Tanz für sie als Fluchtmittel wie als Ausdruck dessen versagt, was sich nicht in Worte fassen lässt. Eine Vorführung im Internat bringt Odette den Verdacht ein, sie tanze den Schmerz einer verheimlichten Holocaust-Vergangenheit heraus. Für die Kunst scheint ihr wahres Leid zu klein zu sein, für die anderen ist es unsichtbar. Die einzigen Ohren, die ihm gegenüber nicht verschlossen sind, gehören dem Rudolf Nurejew auf dem Poster über Odettes Bett.
Man möchte schreien, wenn man daran denkt, dass ein ähnliches Drama womöglich gerade viele andere Kinder erleben. In der Isolation, zwischen verschlossenen Türen, hinter denen sich heute noch weitere Gefahren verbergen. Vor einer hohen Dunkelziffer bei häuslichen Gewalttaten warnen BKA und Kinderschutzverbände schon seit Beginn des ersten Lockdowns. Und erst im Dezember berichtete die EUPolizeibehörde Europol von einer deutlichen Zunahme von pädokriminellen Handlungen und Kontaktaufnahmen im Internet, während gleichzeitig die Zahl der potenziellen Ansprechpartner und Hilfsangebote gegen null tendiert und von Existenzsorgen gebeutelte Eltern mit Sicherheit nicht hellhöriger werden. ||
KITZELEIEN
Kulturbühne Spagat | Bauhausplatz 3
29., 30. April, 11., 12., 20., 21. Mai | 20 Uhr
16. Mai | 18 Uhr | Tickets: 089 540463747, karten@kulturbuehne-spagat.de
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