Lisa Gotto und Dominik Graf widmen sich in ihrem Band »Kino unter Druck« dem Kino hinter dem Eisernen Vorhang.

»Kino unter Druck« von Dominik Graf und Lisa Gotto

Bruchstellen des Bestehenden

kino unter druck

Der eiserne Vorhang ist längst historisch. Damit verblasst auch zusehends das unter Regelungszwängen und staatlicher Zensur entstandene »Kino unter Druck« im ehemaligen Ostblock. Den gleichen Titel trägt Dominik Grafs und Lisa Gottos aufregende Textsammlung, die im Alexander Verlag erschienen ist und zu den beglückendsten Filmlektüren dieses Frühjahrs zählt. »Seit fünf Jahren führen Dominik und ich längere Gespräche zwischen München, Wien und Köln, weil uns viele Filme dieses zwischen Restriktionen und Aufbrüchen mäandernden ›Ostblockkinos‹ wahnsinnig faszinieren«, erklärt Lisa Gotto voller Verve.

»Im letzten Jahr nahm die Zahl der Mails und Downloadlinks, die wir uns schickten, noch einmal kräftig zu, bis es schließlich ans Schreiben ging.« Selbst unter Cinephilen war es früher nicht leicht, etwa an Frühwerke von Dominik Grafs Hausheiligen Zbyněk Brynych (»Der fünfte Reiter ist die Angst«/»Smyk«) zu gelangen. Später sorgte dieser »wundersam fröhliche tschechische Herr« (Graf) im schillernden Ringelmann­-Bavaria­-Gedächtnis-­Kosmos von »Der Kommissar« über »Der Alte« bis zu »Derrick« und der »Polizeiinspektion 1« gleich reihenweise für Sternstundenmomente. Und trotzdem verschwinden seit Jahren viele Spiel­ und Dokumentarfilmwerke dieser subversiv-­kreativen Galionsfigur des osteuropäischen Kinos aus unserem kulturellen Langzeitgedächtnis. Dazu gehört auch das hierzulande leider immer noch weitgehend unentdeckte Œuvre Věra Chytilovás (»Tausendschönchen«), die an der Prager FAMU studierte, von 1969 bis 1975 Arbeitsverbot erhielt und 2014 starb. Sie zählt zweifellos zu den progressivsten Regisseurinnen der Neuen Tschechischen Welle. Lisa Gotto, die nach Stationen in Weimar, München, Regensburg, Mannheim und Köln seit 2018 Filmtheorie an der Universität Wien lehrt, hat Chytilovás fantastischen Erstlingen »Ein Sack voller Flöhe« (1962) und »Von etwas Anderem« (1963) zwei der schönsten Texte dieses Bandes gewidmet. Über welche Kanäle könne man denn an diese Filmperlen gelangen? »Das war in der Tat recht mühsam und erfordert sehr viel Kreativität und Ausdauer«, erläutert Gotto. »Aber Not macht erfinderisch, und so wurden wir am Ende reichlich belohnt.«

Überhaupt die Frauen und das Regieführen im Ostblock: Gerade hier setzt die sympathische Filmwissenschaftlerin in »Kino unter Druck« einen Schwerpunkt. Obwohl beispielsweise die heute 72-­jährige Agnieszka Holland nahtlos produktiv ist, sich für das europäische Kino engagiert und regelmäßig in Jurys diverser A­Filmfestivals sitzt, sind ihre absolut faszinierenden Debütfilme wie »Provinzschauspieler«, »Fieber« oder »Eine alleinstehende Frau« aus der Filmliteratur sowie Kinematheken und Filmfestivals weitgehend verschwunden. Denn englisch­ oder deutschsprachige DVD­ und Blu­ray-Editionen sind rar und regelmäßige Fernsehausstrahlungen, Streamingangebote oder ambitionierte Filmrestaurationsprojekte in weiter Ferne.

Dasselbe gilt noch stärker für die 1931 geborene Márta Mészáros (»Tagebuch für meine Kinder«), die mit »Das Mädchen« 1968 als erste Ungarin einen Spielfilm alleine verantwortete und 1975, ebenfalls eine Premiere, mit »Adoption« als erste Frau den Goldenen Bären der Berlinale errang. Nach einer längeren Karrierepause kehrte sie erst 2017 mit »Aurora Borealis« kurzzeitig in die Filmwelt zurück. Wer ihre um weibliche Stärke, Autonomie und Eigenwilligkeit ringenden Filme heute zum ersten Mal sieht oder wiederentdeckt, wird sich nicht selten vor Verblüffung die Augen reiben. Ihr dezidiert femininer Blick ist zeitlos modern und legt im Ringen um Pragmatismus und Nonkonformismus die »Bruchstellen des Bestehenden« (Gotto) offen zutage.

Ein ähnliches Schicksal droht beim Blick ins Lehrveranstaltungsverzeichnis diverser Filmhochschulen selbst einstigen Regietitanen wie Andrzej Żuławski (»Diabel«/»Der dritte Teil der Nacht«) oder Krzysztof Zanussi, obwohl der in der westlichen Presse der 1970er Jahre als »polnischer Godard« tituliert wurde und als Regisseur aus dem Lager des »Klassenfeinds« von Locarno über Chicago bis nach Cannes reüssieren konnte. Beim Wiedersehen mit »Die Struktur des Kristalls«, »Familienleben«, »Spirale« oder seinem Hauptwerk »Illumination« (1973) kommt man oft genug nicht aus dem Staunen heraus. Für den letztgenannten Geniestreich hat Dominik Graf einen außerordentlich präzisen wie nonchalanten Beitrag beigesteuert: »Ein Film für das emotionale und intellektuelle Erbe der Menschheit. Eine feinfühlige, sympathisch selbstzweifelnde Identitätssuche, sorgfältig aufzubewahren für die Zeit nach der Ära der Verblödung.«

Selbst für Krzysztof Kieślowski und Andrzej Wajda, den 2016 verstorbenen Übervater des »Kinos der moralischen Unruhe«, scheint dieser Vernachlässigungstrend nicht ausgeschlossen zu sein. Dabei hatte doch, Ironie der (Film-­) Geschichte, gerade der junge Filmschulabsolvent Wajda mit seiner herausragenden Kriegstrilogie (»Eine Generation«, »Der Kanal«, »Asche und Diamant«) die (ost-­)europäische Filmgrammatik irreversibel geprägt und landete sofort auf den Lehrplänen des Westens. Selbiges gelang später auch Kieślowskis grandioser »Drei Farben«­-Trilogie, während dessen aufmüpfige wie hellseherische Systemsprengerfilme wie »Nie wiem« oder »Die Narbe« nur noch in speziellen Filmclub-Bubbles präsent sind.

Wie viel »raffinierte, erfinderische Fantasie« (André Bazin) aus diesem »Kino unter Druck« doch ins marode deutsche Filmförderungssystem einzuschleusen wäre! Darauf konzentriert sich Grafs und Gottos reflektierte wie anprangernde Fundamentalkritik in ihrem Einleitungskapitel auf 30 Seiten im dialogischen Pingpong­-Stil. Lasst uns mehr experimentelle Béla­-Balázs­-Studios gründen! Erschwert »gutbürgerlichen Abiturient*innen mit unangemessen hohem Selbstbewusstsein und zu niedriger Frustrationstoleranz« (Graf) die Zugänge zu Filmhochschulen. Ihre formidable filmliterarische »Spurensuche durch die Filmgeschichte« kann zugleich als Manifest eines widerborstigen Autor*innenkinos von morgen gelesen werden, das hoffentlich nicht erst in 50 Jahren (wieder-) entdeckt werden muss. ||

DOMINIK GRAF UND LISA GOTTO: KINO UNTER DRUCK – FILMKULTUR HINTER DEM EISERNEN VORHANG
Alexander Verlag, 2021 | 160 Seiten | 19,90 Euro

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