Die große »Kopenhagen-Trilogie« der dänischen Autorin Tove Ditlevsen, die sich 1976 das Leben nahm, liegen nun auf Deutsch vor. Außerdem startet heute das Residenztheater mit seiner Lesung aller drei Bücher in der Reihe »Resi liestlive«.
Tove Ditlevsen: Fremd
Worte können uns mit Menschen verbinden, sie können uns allerdings auch brutal von der Welt trennen. Von dieser Diskrepanz handelt unter anderem Tove Ditlevsens Erinnerungswerk. Berühmtheit erlangte es unter dem Titel »Kopenhagen Trilogie«, erstmals erschienen im Jahr 1967. Nun liegen die autobiografischen Schriften Ditlevsens erstmals vollständig auf Deutsch vor, in den drei Bänden »Kindheit«, »Jugend« und »Abhängigkeit«. Sie beschreiben das Leben der Dichterin in hochgradig konzentrierter Form. Nicht ein Wort zu viel.
Keiner der Bände hat mehr als 180 Seiten. Wie sich herausstellt, ist das genug, um darin ein ganzes Leben zu fassen. Eines, das im Falle Ditlevsens viel zu früh sein unglückliches Ende fand. Im Jahr 1976 beging die Schriftstellerin im Alter von 58 Jahren Suizid. Eines der ersten Worte des Bandes »Kindheit« lautet »Hoffnung«. Ein Motiv, welches das begabte Kind durch sein Leben begleiten wird, auch wenn es sich später im Hintergrund der von ungeheuren Härten geprägten Existenz der Autorin zu verlieren droht. Ditlevsen wird in ärmlichen Verhältnissen groß, im Rotlichtviertel Kopenhagens. Weder ihre Mutter noch ihr Vater können der kleinen Tove die Geborgenheit geben, die sie braucht. »Nach Zeichen von Liebe muss ich immer suchen.« Trost findet sie früh in der Sprache und der Literatur. Bereits mit sieben Jahren ist sie sicher, Dichterin werden zu wollen, entgegen der Lebensumstände und Erwartungen ihrer Arbeiterfamilie. »Ein Mädchen kann nicht Dichter werden«, sagt der arbeitslos gewordene und fortan zu bedrückender Häuslichkeit neigende Vater an einer frühen Stelle des ersten Bandes zu seiner Tochter. Die Mutter sorgt sich, dass Tove wunderlich werde von der vielen Leserei oder durch die Bücher gar zur Lügnerin.
Die Geborgenheit, die ihr die Eltern verwehrten, wird die Ich-Erzählerin in ihren späteren Verhältnissen zu Männern suchen. Finden wird sie die nur in seltenen Momenten. Ditlevsens erste literarische Veröffentlichungen öffnen ihr den Zugang zu den Literatenkreisen Kopenhagens. Bald schon folgt die Heirat mit dem Verleger Viggo F. Møller. Es scheint so – davon zeugen die drei Erinnerungsbände –, als stünde permanent etwas zwischen der Erzählerin und der Welt, etwas, das sie nie wirklich ankommen lässt in ihrem Leben. Sie fühlt sich überall gleichermaßen fremd, allein auch in Gesellschaft. Auch die Kunst ihres Schreibens entspringt diesem Gefühl tiefer Entfremdung. Das Fremdheitsgefühl überträgt sich geradezu körperlich auf den Leser. Wie ein kleiner Schatten, der unbemerkt auf die Dinge fällt, begleitet es einen während der Lektüre und lange danach. Was Tove Ditlevsen so sehr von der Welt trennt, ist ihre schneidende Intelligenz. Ihren untreuen Geliebten und später auch Ehemännern ist sie haushoch überlegen. Die Geburt ihrer Tochter Helle im zweiten Band der Trilogie – »Jugend« – wirkt wie ein kurzer Segen. Doch die Schatten holen die Erzählerin immer wieder ein. Es sind dies freilich auch die Schatten ihrer Zeit. Hitler ist in Deutschland an die Macht gekommen, und auch die dänischen Nationalsozialisten streben nach politischem Einfluss. Dennoch übersteigt das ausufernde Ich der Autorindie historische Ereignislage. Es scheint stets alles um sich herum kontrollieren zu wollen, beinahe schon zwanghaft. Den dadurch allzu vorhersehbaren Kontrollverlust erleidet Ditlevsen schließlich durch ihre Abhängigkeit von einem opiathaltigen Schmerzmittel, das ihr der dritte ihrer vier Ehemänner einflößt.
»Abhängigkeit« so lautet denn auch der Titel des dritten Erinnerungsbandes der Kopenhagener Trilogie. In der Sucht verliert die Autorin ihren Zugang zur Sprache. Ihr Schreiben versiegt. Der Einklang mit der Welt, den die Droge der Erzählerin verheißt, ist nur ein scheinbarer. Für die Autorin gibt es schließlich keinen anderen Weg als hinein in die Sprache, in das ewige Paradox, das uns teilhaben lässt an der Welt einerseits und uns andererseits fernhält von ihr. So konsequent und wahrhaftig beschritten haben diesen Weg außer Tove Ditlevsen nicht viele Autoren. Ein einzigartiges Werk. ||
TOVE DITLEVSEN: KINDHEIT.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.
Aufbau Verlag, Berlin 2021 | 118 Seiten | 18 Euro
TOVE DITLEVSEN: JUGEND.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.
Aufbau Verlag, Berlin 2021 | 154 Seiten | 18 Euro
TOVE DITLEVSEN: ABHÄNGIGKEIT.
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein.
Aufbau Verlag, Berlin 2021 | 176 Seiten | 18 Euro
Tove Ditlevsen im Aufbau Verlag
Das Ensemble des Residenztheaters trägt in seiner »Resi liest live«-Reihe die kompletten Texte vor:
KINDHEIT
Montag, 22. März; 18 bis ca. 22 Uhr
JUGEND
Dienstag, 23. März; 18 bis ca. 23 Uhr
ABHÄNGIGKEIT
Freitag, 26. März; 18 bis ca. 21.30 Uhr
Samstag, 27. März; 18 bis ca. 21 Uhr
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