Über das begeisternde Kinotagebuch von Victor Klemperer aus den Jahren 1929–1945.
Victor Klemperer: »Noch einmal gut im Kino sitzen«
»Ich bin so sehr gern im Kino – es entrückt mich!«, notierte der Leipziger Romanist Victor Klemperer 1933 in sein »Kinotagebuch«, das kürzlich im Berliner Aufbau-Verlag unter dem Titel »Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929 –1945« erschienen ist und sich zumindest für cinephile Leser bald zu einem weiteren modernen Klassiker entwickeln könnte. Es zeugt schließlich zum einen von der regelrechten Kinomanie des Dresdner Wissenschaftlers (»ein freudiges Spielen mit den Erscheinungen des Lebens«), die in ihrer teils naiven Emphase Thomas Manns operettenhafter Vorliebe für scheinbar triviales Unterhaltungskino in sämtlichen Genres zumindest in den 1920ern nicht unähnlich ist.
Egal, ob Räuberpistole, Lustspiel, Abenteuerfilm oder ambitionierte Literaturverfilmung wie Lubitschs »Madame Bovary«: Der passionierte »Kintoppgänger« konsumierte sozusagen alles, querfeldein und ohne Standesdünkel. Wie er sich überhaupt extrem gerne unter die selten heterogenen Lichtspielbesucher mischte, die wie er in dieser Zeit vor allem Fritz Kortner (»Natürlich ist er als Held sehr gut«), Greta Garbo (»die dämonisch Liebende«) und Fritz Lang, dessen »Frau im Mond« Klemperer als »technisch ungemein packend dargestellt« charakterisierte, über alle Maßen bewunderten.
Besonders Marlene Dietrichs Rolle in »Der Blaue Engel« hatte es ihm angetan: »Der Klang dieses Organs. ›Es ist lange her, dass man sich um mich jeprüjelt hat‹ – dieser eine Satz ganz unpathetisch, ganz unsentimental u. doch ein bisschen natürlich dankbar … Darüber könnte ich Seiten schreiben.« Für ihn war »sie, die Marlene Dietrich, fast noch besser als Emil Jannings«. Überraschend ist, dass er und seine Frau dem neuartigen Medium Tonfilm (»Eine gemordete Kunst«) längere Zeit überaus kritisch entgegenstanden: »Nach wohl einjähriger Pause in einen Tonfilm. Er war scheußlich, und wir beschlossen weiteren Boykott. Scheußlich die entstellten Stimmen, die das Wenigste, das Belanglose, langsam und mechanisch herausquetschen. Film muss Ausdruckskunst sein, dem Ballett ähnlich, von Musik getragen, oder er ist ein widerwärtiger toter Mechanismus und ein misstöniger dazu«, heißt es dazu missmutig im Eintrag vom 4. April 1931.
Parallel erzählen seine zwischen Lakonie und Pessimums schwankenden Reflexionen (20. Juli 1933: »Politische Lage trostlos.«) zum anderen ein zweites Mal vom barbarischen Ungeist dieser düstersten Jahre der deutschen Geschichte. Als Victor Klemperer 1941 selbst eine mehrtägige Haftstrafe antreten musste, hielt er dieses individuelle Schreckenserlebnis folgendermaßen fest: »Einen Augenblick dachte ich: Kino!« So irrational-wunderlich erschien ihm der tatsächliche Gang durch das Gefängnistor, dass er sich wortwörtlich im falschen Film fühlte: einer abgründig-perfiden NS-Komödie mit unsicherem Ausgang wie von Veit Harlan und Joseph Goebbels persönlich ersponnen. Ähnlich kinematografisch wie apodiktisch schreibt er 1936 darüber, dass nun »der deutsche Lustspielfilm marschiert«. Kein Zweifel: Victor Klemperer beherrschte auch in der kürzesten Form sprachliche Genauigkeit und zeithistorische Hellsichtigkeit, die beinahe alle seiner 100 veröffentlichten Kino-Notate kennzeichnen.
Denn wie schon in seinen weltberühmten Tagebüchern (»Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. 1933 –1945«), die der jüdische Professor (1881 –1960) trotz ständiger Bedrohung durch das NS-Regime ziemlich akribisch geführt hatte, enthalten Klemperers Gedanken immer wieder extrem viel Zeitkolorit und beschränken sich beileibe nicht nur auf einzelne Kinobesuche, solange sie bedingt durch die Nürnberger »Rassengesetze« für ihn und seine depressive Frau Eva überhaupt noch möglich waren.
Bereits in den ersten Seiten dieser ausgesprochen kurzweiligen Lektüre ist sie wieder da: Klemperers ebenso präzise wie pointierte Sprachgewalt, die untrennbar mit seinen Leistungen als bedeutender Philologe des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Nicht umsonst gilt seine prägnante Sprachanalyse des »Dritten Reichs« (»Lingua Tertii Imperii«, kurz »LTI. Notizbuch eines Philologen«) aus dem Jahr 1947 als linguistische Pioniertat kurz nach der infernalischen Totalkatastrophe des Zweiten Weltkriegs. Rasch hatte es sich in der antifaschistischen DDR zum Standardwerk entwickelt, aus dem jahrzehntelang zitierte wurde. Im selben Geist wird durch die Veröffentlichung dieses wunderbaren »Kinotagebuchs« erneut ein halbes (Film-)Jahrhundert zu neuem Leben erweckt. Victor Klemperers ebenso entzückende wie erdrückende Bekenntnisse eines Kinomanen gehören zweifelsfrei zu den aufregendsten literarischen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs. Zugleich lesen sie sich in unserer gegenwärtigen und weitgehend kulturlosen Zeit ohne geöffnete Kinos obendrein umso melancholischer. »Noch einmal gut essen, gut trinken, gut Autofahren, gut am Meer sein, gut im Kino sitzen …« Die Erinnerung ans Kino lebt – zumindest in Klemperers brillanten Zeilen. ||
VICTOR KLEMPERER: LICHT UND SCHATTEN. KINOTAGEBUCH 1929–1945
Aufbau Verlag, 2020 | 363 Seiten | 24 Euro
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