Alex Ross wagt in seinem Buch »Die Welt nach Wagner« den großen Wurf und zeichnet ein Jahrhundertpanorama.
»Die Welt nach Wagner«: Das Monster im Labyrinth
Ein Perspektivenwechsel tut gut. Noch dazu für den angloamerikanisch analytisch klaren Stil, fern aller ästhetischen Schwurbelei. Kein Zurückschrecken also vor 750 Seiten mit reinem Text in bester Übersetzung, vertieft durch 100 Seiten Anmerkungen, und einem breit angelegten Register. Ross hat auch nicht die x-te Oeuvre-Interpretation verfasst, sondern den Horizont von Wagners Lebensende bis circa ins Jahr 2000 gespannt: Was hat der Komponist geschaffen und wie haben seine Werke, seine Schriftstellerei und seine oft ausufernden Äußerungen dann die Kunstwelt der Moderne beeinflusst? So untersucht Ross den schon zu Lebzeiten einsetzenden »Wagnerismus« in Lyrik, Prosa, Malerei, Theater, Tanz, Architektur und Film bis in unsere Zeit. Am Ende steht Parsifal-nahe »Die Wunde« und signalisiert, dass Ross kein Problem der vielfältigen Wirkungsgeschichte ausspart, vor allem nicht den für ihn klar zu Tage liegenden Antisemitismus Wagners samt breit belegter Nachwirkung. An manchen Stellen der vielfach umrissenen politischen Nachwirkung Wagners, seiner Instrumentalisierung bis zum Missbrauch zeigt sich eine Leerstelle der Analyse: Udo Bermbach, der seit 1989 vielfach neue Werk-Horizonte mit »Richard Wagner in Deutschland« eröffnete und die gesellschaftspolitische Wirkungsgeschichte grundlegend beleuchtete, ist nur einmal kurz genannt.
Doch weit darüber hinaus eröffnet Ross tiefe Einblicke in den schon zu Lebzeiten des Komponisten in Frankreich entstehenden »Wagnerisme« mit Mallarmés »Le Dieu Wagner« hin zu W. H. Audens »absolute shit« inmitten der englischen Wagner-Verehrung, einschließlich sonderbarer Seitenlinien: Siegfrieds Trauermarsch wird bei Lenins Beerdigung gespielt und Zionist Theodor Herzl erholt sich bei »Tannhäuser«. Neu ist der, wenn auch etwas breit geratene Blick auf Wagners Wirkung in Amerikas Literatur. Ross zeigt die nahezu weltweite literarische Breitenwirkung des Tristan-Akkords und der Liebeshandlung auf. Differenziert wird die Problematik des »Wagner-Hitler-Nationalsozialismus« erörtert, dass Wagner in dieser Phase etwa in Angloamerika zum »guten Deutschland« gerechnet wurde bis hin zu Filmsequenzen der US-Bomberflotte, denen der »Walkürenritt« unterlegt ist – lange vor »Apocalypse Now«, wo dann der »deutsche Wille zur Macht durch einen God-bless-America-Imperialismus ersetzt wurde«. Insgesamt bringt das Kapitel »Wagner im Film« von Stummfilmmusik bis zu Stanley Kubrick, Ken Russell und Coppolas Opus viel Informatives.
Das aus US-Sicht oft als »German Trash« abqualifizierte »Regietheater« würdigt Ross mit den Namen Herzog, Syberberg, Melchinger, Berghaus, Schlingensief, Alden, Konwitschny, Herheim etwas zu pauschal, aber mit dem Schlussurteil, es sei »die Mühe wert, weil es zu außergewöhnlichen Einsichten führen kann«. Das gelingt auch Alex Ross mit erhellenden Seiten zu »Wagner in der Bildenden Kunst«. All das rundet sich mit Kleinkapiteln zu Tanz und Architektur zu einer lohnenden Tour d’Horizon mit den »besten und schlimmsten Eigenschaften des Menschen«, also einer »Tragödie extremer Unvollkommenheit« in und um Wagners Werk. Die bildlich zugespitzte Quintessenz seines enorm gehaltvollen Bandes hat Ross auf Seite 421 schließlich selbst formuliert: »Wagner bleibt das Monster im Herzen des modernen Labyrinths, dem man nicht entrinnen kann.« ||
ALEX ROSS: DIE WELT NACH WAGNER.EIN DEUTSCHER KÜNSTLER UND SEIN EINFLUSS AUF DIE MODERNE
Rowohlt, 2020 | 907 Seiten mit zahlreichen
Abbildungen | 40 Euro (E-Book 29,99 Euro)
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