Die spanische Serie »Velvet« ist die schönste Seifenoper seit langem.
»Velvet«: 70 Stunden Glück
Es ist nicht nur mit Lust am Eskapismus zu erklären, warum man abendelang in einem Luxusmodehaus der späten 50er Jahre mitten im Herzen von Madrid versinkt. Es ist die Qualität, die den Zuschauer fesselt, von der Figurenzeichnung über die Ausstattung bis hin zur Musik. Vergleichbar ist »Velvet« mit der deutschen Produktion »Kudamm 56–59«, die ähnlich ästhetisch-detailversessen von gesellschaftlichen Veränderungen erzählt. Verdichtet finden im Kodacolor-Madrid Leidenschaft, Liebe und Hass, Komödie und schrecklichste Tragödie statt, vom Souterrain bis zur Dachterrasse des Prachtbaus, in dem sich das Haute-Couture-Modehaus »Galerias Velvet« befindet.
Hier treffen Personen und Persönlichkeiten aufeinander, entspinnen sich Geschichten und zerplatzen auch wieder. Die spanische Realität der Franco-Diktatur bleibt draußen vor der Tür, auch wenn das problematische Verhältnis zwischen Spanien und Kuba in der Nachkriegszeit wie ein Schatten in einigen Folgen über die Handlung fällt. Vielmehr geht es um Familien und die Leichen, die sie im Keller hüten, um Geld und Korruption, um Opfer, die gebracht werden müssen auf Kosten des eigenen Glücks, und natürlich, wir sind Zeugen eines Märchens, für das Happy End. Das darf man vorwegnehmen, weil man trotzdem mitzittert. Und zwar so hingerissen, dass man sich selbst wundert.
Die Produzenten und Regisseure von »Velvet« bringen das Meisterstück fertig, dass sie dank genialer Drehbuchautoren die Spannung über vier Staffeln, insgesamt knapp 70 Stunden lang, aufrechterhalten. »Velvet« lief von 2014 bis 2016 im spanischen Fernsehen und ist seit 2019 in der wunderbaren Originalversion auf Netflix zu sehen. Alberto (Angel Miguel Silvestre, bekannt auch aus »Haus des Geldes«), Sohn und Erbe des Firmengründers, muss Cristina (herrlich hassenswert: Manuela Velasco) heiraten, weil allein diese Ehe das Unternehmen vor dem Bankrott retten kann. Seine große Liebe Ana (hundertprozentig zauberhaft: Shootingstar Paula Echevarría), Schneiderin und Designerin bei Velvet, tritt freiwillig zurück, um die Arbeitsplätze ihrer Kolleginnen und Freunde zu bewahren. Sie ist bei ihrem Onkel, dem Haus- und Hofmeister von Velvet, aufgewachsen. Ihre Familie ist das Kaufhaus und Alberto der Mann ihres Lebens seit Kindertagen. Der Kampf ums Glück nimmt an vielen Fronten seinen Lauf. Die »Chicas Velvet« gehen gemeinsam durch dick und dünn, dazu läuft Musik, die den Zeitgeist mühelos spürbar macht, und alle sehen einfach unfassbar gut aus, auch wenn sie so traurig sind, dass man schier mitweinen will.
Dabei bleiben alle Figuren stets in Entwicklung: die Chefin der Schneiderei ebenso wie das Lehrmädchen aus reichem Haus. Aus Haute Couture für reiche Oberschichtlerinnen wird Prêt-à-Porter für Frauen, die über ihr Leben selbst entscheiden, ihr Geld selbst verdienen und von keinem Mann mehr abhängig sind. Ana, Clara (der schönste Walk des Jahrzehnts: Marta Hazas) und ihre Schwester Rita (Hola Hombre! Niemand schleudert das Castellano authentischer in die Welt als Cecilia Freire, allein schon deshalb empfiehlt sich das Original mit Untertiteln), Sängerin Luisa und Modistin Dona Blanca gegen Cristina, deren intrigante Freundin Barbara (Amaia Salamanca, bekannt aus »Grand Hotel«) und den Rest der Welt – das ist eine so wunderbare Versammlung von Charakteren, dass der Abschied von ihnen am Ende der vierten Staffel schrecklich schwerfällt. Die Männer sind großartige Dekorationen, personifizierte rote Teppiche, über die die Damen stöckeln und rennen, robben und fliegen.
Die Idee zu »Velvet« hatten Ramón Campos und Gema R. Neira, die bereits mit »Grand Hotel«, das auch als spanisches »Downton Abbey« gilt, international großen Erfolg ernteten. Die Fans sind sich einig: »Velvet« ist eine der überzeugendsten Soaps der letzten 25 Jahre. Es passiert nicht oft, dass man den Bildschirm anschreit, vor Entsetzen ebenso wie vor Glück. Hier schon. ||
VELVET
Idee und Buch: Ramón Campos und Gema R. Neira, Teresa Fernandéz Valdés, Maria José Rustarazo, Carlos de Pando u.a. | Regie: Carlos Sedes, David Pinillos, Jorge Sánchez-Cabezudo, Manuel Gómez Pereira, Silvia Quer | Musik: Lucio Godoy | auf Netflix und DVD
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