Regisseur András Dömötör siedelt das Auftragsstück »Marienplatz« des jungen polnischen Autors Beniamin M. Bukowski in einer bunten Budenwelt an.
»Marienplatz«: Wozu brennen, wenn es keiner sieht?
Ein Mann fuhr in den frühen Morgenstunden des 19. Mai 2017 auf den Münchner Marienplatz und steckte sich in Brand. Die unklare Botschaft, die er hinterließ, besteht aus zwei Sätzen: »Nie wieder Krieg von deutschem Boden« und »(Anis) Amri war nur die Spitze des Eisbergs.« Wer der Mann war, liegt bis heute im Nebel. Was das schwache Presseecho aber – seltsam genug – verbreitete, war sein Alter: Er wurde 54 Jahre alt.
Aus diesem Stoff, aus dem Verschwörungstheorien sind, hat der junge polnische Autor Beniamin M. Bukowski ein Stück gemacht, das im Rahmen der ans Residenztheater angebundenen »Welt/Bühne« entstanden ist, die internationale Dramatikertalente mit zweimonatigen Residenzen plus Aufführungen fördert. Letztere wurde im Falle von Bukowskis »Marienplatz« als Onlinepremiere des Generalprobenmitschnitts gestreamt, der außer einer Begrüßung des Heimpublikums und einzelnen Flirts mit der Kamera kaum Merkmale einer Digitalproduktion aufweist. Das ist gut, weil man sich anders als bei technisch hochgejazzten Theater-FilmHybriden, wie sie derzeit etwa das DT Berlin versendet, genau vorstellen kann, wie der von András Dömötör inszenierte Abend auf der Bühne aussähe. Und es ist andererseits traurig, weil die Aufzeichnung als Substitut auf die Lücke verweist, die die geschlossenen Theater gerade in unser Leben reißen.
Die Splitter, aus denen sich das Stück zusammensetzt, sind philosophisch, verspielt und zunehmend verwirrend. Dömötör fügt ihnen eine detektivische Note hinzu und lässt den Schauspieler Moritz von Treuenfels als Autor vier »Rekonstruktionen« anstellen und unter anderem mit einem in Benzin marinierten Schweinekotelett zeigen, wie es riecht, wenn jemand verbrennt. Hängt Bukowskis Bühnen-Ich doch der positivistischen These an: »Sicher können wir nur unserer Wahrnehmung sein!«
Vor und zwischen diese makabren Versuche hat Bukowski noch die alttestamentarische Geschichte von Abraham gepackt, der auf Gottes Geheiß seinen Sohn Isaak opfert, und seine eigenen ins Groteske überhöhten Erfahrungen mit München und mit blasierten Dramaturgen, die immer wieder vergessen, wer er überhaupt ist. Das alles spielt auf oder neben einem zuckerstangenbunten Drehscheiben-Karussell, das Sigi Colpe mit Weihnachtsmarktbuden umstellt hat, die als Abstandshalter und Subbühnen fungieren. In ihnen findet Bezauberndes statt, wenn anfangs alle sechs Akteure hochkonzentriert auf Xylofonen herumklöppeln, das glockenspielhafte Klingklang gegen den szenischen Rhythmus stolpern lassen oder mit tosendem Hall verfremden. Und Liliane Amuat singt so wunderschön, dass man sich an ihrer Stimme festhalten möchte, wenn der ungarische Regisseur bei seinem München-Debüt allzu tief in die Kitsch- und Klischeekiste greift. So protzt ein Stadtführer als blondlockiges Münchner Kindl mit dem Reichtum der goldenen City, die von Brezen wimmelt – was freilich Bukowskis ausgestellt-naivem ethnologischen Blick entspricht. Eine ratlose Variante dieser Naivität trägt von Treuenfels so unermüdlich auf seinem Gesicht spazieren wie Thomas Lettow den Benzinkanister. Lettow ist (neben anderem) »der Mann« im Stück; der Selbstverbrenner ohne Zeugen und ohne Namen. Irgendwann verliert man den Überblick darüber, worauf der Autor eigentlich hinauswill, dessen Stück sich mehr und mehr in theologischen Fragen verstrickt. In der schwächsten und auch inszenatorisch behäbigsten Szene am Schluss sucht Myriam Schröder als narzisstisch gestörter Gott das Gespräch mit seiner Psychiaterin (Nicola Kirsch), weil er sich nach seinem Ende sehnt. Das kommt auch für ihn aus dem Kanister. Und wieder hat’s keiner gesehen. ||
MARIENPLATZ
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